Einige Jahre hindurch liefen die Tarifverhandlungen im Versicherungsgewerbe ab wie ein Ritual. Zunächst forderte die Gewerkschaft ver.di – oder vorher die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) – eine ordentliche Gehaltserhöhung, die sich aus Produktivitätsbeteiligung, Inflationsausgleich und einer bescheidenen Umverteilungskomponente errechnete, dann gab’s eine weit darunterliegende, meist an der Inflationsrate allein orientierte Antwort der Unternehmerseite, ein paar kleinere Tarifaktionen der chronisch unterorganisierten Versicherungsangestellten und am Schluss einen Abschluss, der sich im Geleitzug der sonstigen Tarifabschlüsse der Republik bewegte.
Diesmal ist es anders.
Auf die recht bescheidenen Forderungen der Gewerkschaft – 4,5 Prozent mehr für das kommende Jahr – gab es erst keine, dann Ende März eine Antwort, die dem Verhandlungsführer Christoph Meister kurz die Sprache verschlug und nur als Provokation bezeichnet werden kann: sieben Monate keine Erhöhung, dann ab 1. November 1,1 Prozent mehr, ab 1. November 2018 eine weiteres ganzes Prozent und ab 1. November 2019 sagenhafte 0,9 Prozent mehr Gehalt. Das wäre der gesicherte Reallohnverlust für die nächsten drei Jahre. Damit nicht genug: Die übertariflichen Angestellten sollten, damit alles seine Ordnung habe, künftig aus dem Geltungsbereich des Manteltarifvertrages ausgegliedert werden – damit wäre ihre Arbeitszeit nicht nur durch die zunehmende Kraft des Faktischen, sondern auch juristisch entgrenzt.
Am Dienstag, den 30. April, gab es dagegen an mehreren Versicherungsstandorten der Republik kurze Warnstreiks und Kundgebungen, an denen sich immerhin eine vierstellige Zahl von Kolleginnen und Kollegen beteiligte. Bewegung in die Tarifrunde brachte das nicht – in der darauffolgenden Verhandlungsrunde am 1. Juni änderte sich an dem provokanten Angebot der Unternehmer substantiell nichts. In Hannover nannte Regina Viotto von der zuständigen ver.di-Bezirksorganisation das Angebot des Unternehmerverbandes unter großem Beifall der 300 Warnstreikenden »zynisch«. Da mag sie Recht haben – aber der Zynismus liegt im System begründet. Das wird deutlich an einem weiteren Detail der diesjährigen Verhandlungsrunde. Ver.di hatte neben den genannten Forderungen und einer Verbesserung für Azubis sowie der Altersversorgung auch einen »Zukunftstarifvertrag Digitalisierung mit Regelungen zur Sicherung der Arbeitsplätze« gefordert. Dies ist bitter nötig, weil im gesamten Finanzdienstleistungssektor gegenwärtig rasant Arbeitsplätze gestrichen werden. Die voranschreitende Digitalisierung ermöglicht bereits in Ansätzen und noch mehr in der weiteren Zukunft eine sogenannte Dunkelverarbeitung. Ziel des Technikschubs ist es beispielsweise, nicht nur die Bearbeitung von Neuanträgen, sondern auch von Schäden bis zu einer bestimmten Schadenhöhe rein maschinell, das heißt ohne die klassischen Schadensachbearbeiter abzuwickeln, die jetzt noch einen beträchtlichen Teil der gut 200.000 Versicherungsangestellten ausmachen. So zynisch, offenherzig und in sich logisch wie das ganze System war die Ablehnung dieser Forderung durch Versicherungskonzernbosse: Diese Digitalisierung erfordere enorme Ressourcen und deshalb müssten die Gehaltserhöhungen für die kommenden drei Jahre unter der Inflationsrate bleiben, damit das überhaupt finanziert werden könne.
So deutlich wurde den Versicherungsangestellten selten im 150. Jahr des Erscheinens des »Kapital« von Karl Marx dessen Kernerkenntnis buchstabiert: Die von den bei Versicherungen tätigen Programmierern, Tarifkonstrukteuren und Sachbearbeitern selbst geschaffenen Mittel treten ihnen nun als fremde Macht gegenüber, durch die sie als Träger der lebendigen Arbeit zunehmend aus dem Produktionsprozess herausgedrängt werden. Es geht – so der Aufruf zum Streik – »um die Zukunft meiner Kinder«. Auch das stimmt – aber es wird viel Zeit und Mühe und noch einige herbe Ent-Täuschungen erfordern, bis sich die Kraft entwickelt, dem Wahnsinn dieses systematischen Zynismus ein Ende zu bereiten.