Obwohl zu den Themen »Rente« und »Steuern« noch Ergänzungen ausstehen, umfasst der Leitantrag des SPD-Vorstandes zum Wahlprogramm, das den Titel »Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit. Zukunft sichern, Europa stärken« trägt und vom Dortmunder Parteitag am 25. Juni verabschiedet werden soll, nicht weniger als 72 Seiten. Neben einem durchsetzungsfähigen (Spitzen-)Personal, einer realistischen Macht- beziehungsweise Mehrheitsperspektive sowie einem gemeinsamen Projekt mit potentiellen Koalitionspartnern gehört ein attraktives Wahlprogramm zu den Erfolgsbedingungen für die Bundestagswahl am 24. September. Wenn sie trotz des massiven Gegenwindes in der Medienöffentlichkeit einen Regierungs- und Politikwechsel herbeiführen wollen, müssen sich Martin Schulz und seine Partei glaubwürdig von der Agenda 2010 distanzieren und eine solidarische Alternative dazu bieten.
Wie die meisten Reden des Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten Martin Schulz richtet sich das im Entwurf vorliegende Wahlprogramm der SPD an »hart arbeitende Menschen«, die am ehesten in einer gesellschaftlichen Mittelposition zwischen Oben und Unten zu verorten sind. Dort werden – so glaubt die Parteispitze – in Deutschland die Wahlen entschieden. Dabei müsste, wer die soziale Gerechtigkeit zur Richtschnur seiner Politik macht, sich zuerst um jene »gesellschaftlichen Randgruppen« kümmern, die noch stärker als die Mittelschicht unter der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit leiden. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang beispielsweise Wohnungs- und Obdachlose, total verelendete Drogenabhängige und illegalisierte Migranten.
Gerade einmal drei Zeilen sind der Bekämpfung von Kinderarmut gewidmet, ohne dass sie auch nur eine konkrete Maßnahme enthalten. Später werden ein nach Einkommen gestaffeltes Kindergeld, das vermutlich spätestens vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern würde, und ein Familiensplitting für Alleinerziehende genannt, das zum Einfallstor für ein allgemeines, vor allem Spitzenverdiener begünstigendes Familiensplitting werden könnte. Um sich von den Unionsparteien zu unterscheiden, muss die SPD ein anderes Gerechtigkeitsverständnis entwickeln: Statt wie CDU und CSU zumindest verbal auf Bildung als Wunderwaffe gegen fehlende Chancengleichheit zu setzen, sollte sie begründen, warum Armutsbekämpfung eine wirksame Umverteilung des auf wenige Familien konzentrierten Reichtums voraussetzt.
Auch die Lage von immer noch über sechs Millionen »Hartz IV«-Betroffenen verdient mehr Aufmerksamkeit und müsste spürbar verbessert werden, wäre eine inklusive Gesellschaft das programmatische Ziel der SPD. Dass die Partei keine Agenda der Solidarität verfolgt, sondern nach wie vor der neoliberalen Standortlogik verpflichtet ist, zeigt folgender Satz aus der Präambel des Programmentwurfs: »Wenn wir für mehr Gerechtigkeit und Sicherheit sorgen, dann zahlt sich das für den Wirtschaftsstandort Deutschland aus.«
Das im Volksmund »Hartz IV« genannte Gesetzespaket der rot-grünen Koalition wird im Leitantrag keiner Generalrevision unterzogen, sondern nur an zwei Stellen problematisiert. Zu begrüßen ist, dass der SPD-Vorstand die Sanktionen für Unter-25-Jährige im SGB II »entschärfen« und keine Streichung von Unterkunftskosten mehr zulassen will, damit in Zukunft kein junger Mensch seine Wohnung verliert, nur weil er zwei »Pflichtverletzungen« (zum Beispiel Ablehnung eines Bewerbungstrainings und Abbruch einer Weiterbildungsmaßnahme) begangen hat. Konsequenter wäre es, würde sich die Partei zu einer repressionsfreien, bedarfsgerechten und armutsfesten Grundsicherung durchringen. Wenn die SPD – wie im Programmentwurf vorgesehen – das Schonvermögen der Arbeitslosengeld-II-Bezieher von 150 Euro pro Lebensjahr auf 300 Euro verdoppeln will, hat sie nur die kleine Minderheit der »Hartz IV«-Bezieher im Blick, die über Rücklagen in einer solchen Größenordnung verfügen.
Zwar plädiert der Leitantrag für einen »starken Sozialstaat«, er peilt aber nur bei Gesundheit und Pflege eine Bürgerversicherung an. Würde die SPD alle dafür geeigneten Versicherungszweige einbeziehen, könnte der Sozialstaat wieder auf ein festes Fundament gestellt und die konzeptionelle Basis für eine Mitte-links-Koalition geschaffen werden. Selbständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister müssten einbezogen, neben Löhnen und Gehältern auch Kapitalerträge (Zinsen und Dividenden) sowie Miet- und Pachterlöse verbeitragt werden. Nach oben darf es im Grunde weder Beitragsbemessungs- noch Versicherungspflichtgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen.
Wer mehr soziale Gerechtigkeit verwirklichen möchte, muss den Sozialstaat in diesem Sinne weiterentwickeln. Die ebenfalls notwendige Reregulierung des Arbeitsmarktes umfasst neben der im Leitantrag des Parteivorstandes angekündigten Abschaffung sachgrundloser Befristungen einen auf mehr als zehn Euro brutto pro Stunde erhöhten Mindestlohn ohne Ausnahmen (für Langzeitarbeitslose, Jugendliche ohne Berufsabschluss, Kurzzeitpraktikanten, Zeitungszusteller und Gefängnisinsassen), eine Überführung der Mini- und Midijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse sowie ein Verbot oder eine starke Beschränkung der Leiharbeit. Außerdem wären eine Rückabwicklung der Riester-Rente und die Entfernung der Dämpfungs- beziehungsweise Kürzungsfaktoren (Riester-, Nachhaltigkeits- und Nachholfaktor) aus der Rentenanpassungsformel fällig. Die von Martin Schulz verlangte »Stabilisierung des Rentenniveaus« reicht als Zielmarke nicht aus, weil es schon heute Millionen Arbeitnehmer im Alter kaum mehr vor dem sozialen Absturz bewahrt. Schließlich muss eine sozial gerechte Steuerpolitik gemacht, die Einkommensteuer progressiver gestaltet, die Vermögensteuer wieder erhoben und die betriebliche Erbschaftsteuer so gestaltet werden, dass man nicht mehr einen ganzen Konzern erben kann, ohne steuerpflichtig zu werden.
Resümierend lässt sich feststellen, dass es Zeit für einen anderen Typus der Gerechtigkeit ist, als ihn sich die SPD zuletzt auf ihre Fahnen geschrieben hat. Es muss wieder um mehr Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit gehen, weniger um Leistungs- und »Teilhabegerechtigkeit«, die sich gemäß dem neoliberalen Gerechtigkeitsverständnis darauf beschränkt, Erwachsenen den Zugang zum Arbeitsmarkt und Kindern den Zugang zu Bildungsinstitutionen zu gewährleisten.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt hat er das Buch »Armut« (PapyRossa Verlag 2017) veröffentlicht.