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Titel1217

Wir Gentrifizierten  ( Marc-Thomas Bock)

Weder die launige Runde am Küchentisch noch die gemeinsam erkochten kulinarischen Ergebnisse scheinen für unsere Freunde, wenn sie uns am Wochenende besuchen, in den letzten Monaten das Highlight des Abends zu sein. Es sind vielmehr die am Abend einsetzenden Szenarios urbaner Auseinandersetzungen unten vor dem Balkon: Ein paar Stunden schon haben vor einem Wohnneubau die Holzlöffel der Gentrifizierungsgegner auf die mitgebrachten Töpfe geschlagen, eine aus dem spanischen Bürgerkrieg stammende Form des Straßenprotestes. Dann begleiten Sprechchöre die Stille des Wochenendes, und irgendwo zerklirren leere Flaschen. Spätestens mit dem Geheul der ersten Martinshörner ist dann allen Bewohnern unseres Berliner Kiezes klar: dicke Luft, mal wieder. Willkommen im Friedrichshain. Und unsere Freunde, inzwischen weinselig diskussionsbereit, sehen mit einer gewissen Spannung dem Polizeihubschrauber entgegen, der unvermeidlich über unseren Häusern einschwebt, um dann mit seinem enervierenden Gebrumme stundenlang auf der gleichen Stelle zu verharren. Genau dort, wo unter ihm das Mietshaus Rigaer Straße 94 mitsamt seinen Besetzern gegen die fortschreitende Verbürgerlichung des Viertels steht, wo Punks, Antifa-Aktivisten, Wohnungslose und Genossenschaftler gemeinsam versuchen, der aus ihrer Sicht überhandnehmenden Verdrängung von Armen und Unangepassten Paroli zu bieten. Unser Nachbarhaus ist die »Villa Felix«, nur eine Querstraße weiter, ein nach langen Besetzerjahren renoviertes Mietshaus, Wohnstatt für die ehemaligen Kämpfer gegen Mietwucher und spekulativen Leerstand. Aus den Besetzern wurden Genossenschaftler, aus den Rechtlosen wurden Mieter. In diesem Haus wohnte Silvio Meier, ein aus der DDR-Provinz stammender  Linksalternativer, der vor 25 Jahren von Nazis im Eingang unseres U-Bahnhofes ermordet wurde. Felix ist Silvio Meiers Sohn, der Name »Villa Felix« eine Mahnung gegen rechten Terror. Nach Silvio Meier wurde hier vor ein paar  Jahren auch eine Straße umbenannt, die Plakette am Ort seines Todes im U-Bahnhof existiert noch und wird regelmäßig zerstört, dann wieder von Freunden ersetzt, und die nach ihm benannte Demo sorgt jährlich für großen Unmut beim jeweiligen Innensenator.

 

Es gibt sie noch, die besetzten Häuser mit ungeklärten Besitzverhältnissen und schwammigen Eigentümerklagen. Im Gegensatz zu genossenschaftlich erworbenen oder mit regulären Mietverträgen ausgestatteten Häusern von Ex-Besetzern, von denen es im Kiez mindestens sechs gibt, gleicht die Rigaer Straße 94 innen – will man den Polizisten glauben – einer mittelalterlich verbarrikadierten Feste. Nur, wer glaubt hier schon der Polizei. »Haut die Bullen platt wie Stullen«, hieß ein Graffito in unserer Straße, das sage und schreibe zwei Jahre existierte. Als vor einigen Monaten die hauseigene Kneipe »Katerschmiede« der Rigaer 94 unter massivem Polizeieinsatz geschlossen werden sollte, kam es zu brutalen Straßenkämpfen. Der damalige Innensenator Henkel war einer juristisch nicht wasserdichten Räumungsklage aufgesessen, was allerdings erst später klar wurde. Dabei wirkt der Kampf der militanten Hausbesetzer um einen mietrechtlichen Schutz zugleich auch wie ein Zerrspiegel der sich rasant verändernden Wohnsituation in Berliner Vierteln wie dem unseren. Denn die Gentrifizierung, die gnadenlose Verdrängung von einkommensschwachen Mietern, ist nur die halbe Wahrheit.

 

Wer hier schon so lange lebt wie wir, kennt die Mitbewohner seines Mietshauses und auch deren Geschichten über die Vermieter aus nachbarschaftlichen Gesprächen, aus gemeinsamen Hoffesten und Treppenhaus-Flohmärkten. »Oma Anne muss bleiben«, plakatierte die Linke bei den letzten Abgeordnetenhauswahlen, und als Forderung für bezahlbare Mieten war dieser Slogan auch verständlich und sympathisch. Allerdings hing ein Wahlplakat mit fast identischer Botschaft wochenlang an der Fernstraße von Pasewalk nach Anklam, und hier hieß die Partei NPD. Populismus ist nicht immer ein Prärogativ der Rechten, leider. Schon diese Tatsache macht klar, wie schwierig ein sachlicher Austausch von Meinungen, wie weit entfernt die Berliner Sozialpolitik von konstruktiven Lösungsansätzen entfernt ist. Zuviel Wahrheit wird auf dem Altar der lokalpolitischen Wahlkampfinteressen geopfert, von allen Koalitionspartnern der Stadt.

 

Was zutrifft, ist die sofortige Neuvermietung für bis zu 13 Euro pro Quadratmeter, sobald »Oma Anne« samt ihrem aus der DDR stammenden Fünf-Euro-Mietvertrag verstorben oder ins Altenheim gewechselt ist. Was zutrifft ist, dass sich neben den schon sprichwörtlichen kapitalkräftigen Erben aus Schwaben immer mehr globale Finanzanbieter und Hedgefondsritter ganze Mietshäuser oder einzelne Wohnungen sichern, um diese zu nach wie vor lukrativen Abschreibungs- und Steuersparbedingungen teuer weiterzuvermieten. So ging in unserem Haus eine solcherart erworbene Wohnung nach Hongkong, eine andere nach Oman. Was zutrifft, sind die völlig illegal vermieteten Wohnungen, die als Ferienwohnungen bei Anbietern wie Airbnb urplötzlich im Internet zu finden sind, oder die zu Hostels oder fliegenden Geflüchtetenunterkünften zweckentfremdeten Wohnungen windiger Besitzer aus dem In- und Ausland.

 

Und was auch zutrifft ist, dass es sich bei der überwiegenden Mehrzahl von Bewohnern nicht um Reiche handelt, sondern um – zugegebenermaßen – kleine bis mittlere Mittelschichtler, die als Doppelverdiener oder anderweitig genug Ausgebeutete die seit Jahren anziehenden Mieten sicher nicht aus ihren Dividenden zahlen. In unserem Haus wohnen Menschen aus dem Iran, aus der Türkei und aus Kolumbien. Sie als Reiche zu bezeichnen, ist leider auch eine Form absurdesten Populismus. Wo ehemalige Besetzer sich ein Mietshaus wie die »Villa Felix« zu Recht und mit viel Courage erstritten haben, werden plötzlich bürgerliche Tugenden gepflegt: vom Vereinslokal zum Urban Gardening, vom Kiezladen zu Caffè Latte. Die militanten Gentrifizierungsgegner von einst werden selbst zur Gentry. Das ist die Wahrheit, und sie ist nicht bequem. Überhöhte Mieten und Mietwucher, Spekulationsnischen und damit verbundener künstlicher Leerstand sind die Grundübel der Gentrifizierung, nicht jedoch die Bewohner, die von einer auf Gewalt gebürsteten Minderheit Militanter aus dem Besetzerumfeld als Feinde betrachtet werden. Es hilft der guten Sache nicht, Stahlkugeln in die Kinderzimmer von Nachbarn zu katapultieren (bekannt der Fall eines attackierten Kinderzimmers in der Rigaer Straße 33, einem Neubau) oder eine Tiefgarage zu stürmen, um gleich reihenweise Autos der sogenannten Gentrifizierten abzufackeln, darunter den Kleinwagen einer Altenpflegerin.

 

Stadtentwicklungssenatorin Lompscher (Linke) hat nun löblicherweise in den erweiterten Leitlinien für den Stadtentwicklungsplan bis 2030 ermitteln lassen, dass in Berlin statt der bisher jährlich geplanten 10.000 Wohnungen im sozial angemessenen Mietpreissegment von derzeit ungefähr sieben Euro kalt pro Quadratmeter ganze 20.000 Neubauten jährlich, also doppelt so viele, benötigt werden. Ähnliche Initiativen gehen von den sechs landeseigenen Wohnungsunternehmen aus, die an 17 Standorten in ganz Berlin Neubauten zu je 7,50 Euro kalt und Sozialwohnungen zu je 6,50 Euro kalt errichten lassen. Dies sind die Zahlen, die bekanntlich nicht ausreichen werden, aber ein soziales Engagement darstellen, die Berliner Innenstadt ihren Bewohnern auch zukünftig zu erhalten. Denn die Gentrifizierer leben nicht unter uns: Sie würden sich unter den internationalen Bewohnern nicht wohlfühlen, die türkischen Gemüseläden und arabischen Shisha-Bars ablehnen und auch die prolligen Kneipen wie das »Eisbeineck«, sich vor dem polnischen Obdachlosen auf dem Mittelstreifen ekeln und sich wahrscheinlich auch an dem fremdsprachlichen Gejuchze der vielen Kinder aus gemischtnationalen Familien unten auf dem Spielplatz stören. Sie bewohnen Häuser oder Villen in der deutschen Provinz, im Berliner Speckgürtel, auf den Bahamas oder anderswo. Ihre Machenschaften zu unterbinden, ihnen das spekulative Handwerk mithilfe erweiterter mietrechtlicher Klauseln zu legen, das ist die gemeinsame Erwartung aller Bewohner hier im Kiez an die Sozialrechtsexperten und Sozialpolitiker der Stadt.