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Titel1217

Mayday und Mays Day  (Johann-Günther König)

Mayday lautet das internationale Notsignal im Sprechfunk und womöglich das vieler Briten, wenn sie die mit dem Ausstieg aus der EU verbundenen Nachteile dereinst zu spüren bekommen. Mays Day wiederum könnte ab dem 8. Juni als Synonym für europäisches Verhandlungschaos in Mode kommen. Allerdings nur dann, wenn die britische Premierministerin bei der Unterhauswahl mit der von ihr zunehmend in Wallung gebrachten Conservative Party, den sogenannten Tories, den erhofften großen Sieg erringt, was bei Redaktionsschluss noch offen war.

 

Als Theresa May am 16. April überraschend bekannt gab, die eigentlich erst 2020 fällige Neuwahl des Parlaments würde auf den 8. Juni 2017 vorgezogen (was in Großbritannien prinzipiell als unerwünscht gilt), hatte sie zwar ihr zuvor beteuertes Versprechen, keine Wahlen »außer der Reihe« auszurufen, gebrochen; aber weil die Umfragen ihr beziehungsweise den Tories gleichsam einen riesigen Vorsprung vor der oppositionellen Labour Party versprachen, hoffte sie wohl auf Nachsicht in der Wählerschaft. Grundsätzlich ging und geht es der Regierungschefin und ihren EU-feindlichen Mitstreitern wie etwa Brexit-Minister David Davies und Außenminister Boris Johnson freilich um etwas Naheliegendes, nämlich um das Toppen des rein willensbekundenden knappen Brexit-Referendum-Ergebnisses durch eine möglichst entschieden ausfallende Brexit-Wahl durch den Souverän. Denn für die nach der Unterhauswahl beginnenden Austrittsverhandlungen mit den EU-Vertretern um Chef-Unterhändler Michel Barnier wäre es den regierenden Brexiteers nur zu willkommen, wenn sie ihre bislang noch als Vorgeplänkel einzustufenden schroff-arroganten Forderungen und Bedingungen durch eine satte Tory-Parlamentsmehrheit untermauern könnten. Ihre immer wieder postulierte »Warnung«: »No deal is better than a bad deal for the UK« (kein Abkommen ist besser als ein schlechtes) spricht für sich.

 

Den Umfragen zufolge schien ein Erdrutschsieg der Tories bis Mitte Mai so sicher wie der Brexit, belief sich ihr Vorsprung gegenüber Labour auf fast sagenhafte 23 Prozentpunkte. Allerdings machte Theresa May als Wahlkämpferin einen alles andere als überzeugenden »Job«, verwirrten ihre durch simple Slogans artikulierten Wahlversprechen mehr, als sie Hoffnung auf bessere Zeiten machten. Ihre bildungspolitische Agenda, die auf noch mehr Privatschulen und die Abschaffung gebührenfreier Schulspeisungen zielt, dürfte vielen Eltern schulpflichtiger Kinder auch nicht gerade zugesagt haben. Zudem ging ihr Versuch, den gewiss auch nicht überragenden, aber zumindest als Anti-Establishment-Kämpfer und nachdrücklich für Frieden und soziale Gerechtigkeit eintretenden Labour-Chef Jeremy Corbyn mit immer schärfer personalisierten Attacken aus dem Machtrennen zu drängen, besonders jüngeren Leuten gegen den Strich. Jedenfalls holten die oppositionellen Sozial- wie auch Liberaldemokraten in den Umfragen auf. Die Liberal Democrats kämpfen übrigens anders als die Labourites für die Aufrechterhaltung der EU-Mitgliedschaft. Traurig aber wahr: Aus dem Wahlmanifest der traditionsreichen Arbeiterpartei ließ sich keine klare Position zur künftigen Positionsbestimmung gegenüber der EU entnehmen. Die Greens (Grünen) wiederum, die ein erneutes EU-Referendum forderten, spielen mangels Wählerakzeptanz im herrschenden Politikbetrieb keine nennenswerte Rolle.

 

Nun hat seit dem 22. Mai, dem Tag, an dem das grausame Massaker im Foyer der Manchester Arena erneut zeigte, wie schwer dem sogenannten islamistischen Terror trotz aller Polizei-, Armee- und Geheimdienstaktivitäten beizukommen ist, dem Wahlkampf ein alle anderen Aspekte überlagerndes Thema gleichsam eingebombt: »innere Sicherheit«. Theresa May, die sich als Innenministerin den Ruf einer unnachgiebigen Law-and-Order-Politikerin erworben hat, attackierte inzwischen ihren Kontrahenten Corbyn, der im Unterhaus gegen jedes Anti-Terror-Gesetz gestimmt hat und nicht von ungefähr der britischen Außenpolitik eine Mitschuld an der Terrorgefahr gibt, denn auch in übelster Weise. Ob das freilich in der brexitwilligen Labour-Anhängerschaft vor allem in den nordenglischen Wahlkreisen so gut angekommen ist, dass sie auch den konservativen Kandidaten ihre Stimme geschenkt hat, wird vielleicht sogar die wahlentscheidende Frage gewesen sein. Im Übrigen sind die Lebensumstände der lohn- und sozialgeldabhängigen Bevölkerung in den ehemaligen Hochburgen der Industrialisierung seit 2010, als die Tories an die Macht kamen, gravierend schlechter geworden, sind alles überstrahlende Law-and-Order-Versprechen womöglich ein politischer Rohrkrepierer. Wie heißt es nicht gleich bei Friedrich Engels, der sich ab 1842 in der väterlichen Baumwollspinnerei in Manchester zunächst als Auszubildender aufhielt, bevor er als Emigrant ab 1850 in die Firmenleitung eintrat und bis 1870 eine Art Doppelleben als Geschäftsmann und kommunistischer Akteur führte:

»Bei dieser Gelegenheit ein paar Worte über die Heilighaltung des Gesetzes in England. Allerdings, dem Bourgeois ist das Gesetz heilig, denn es ist sein eigen Machwerk, mit seiner Einwilligung und zu seinem Schutz und Vorteil erlassen. Er weiß, daß, wenn auch ein einzelnes Gesetz ihm speziell schaden sollte, doch der ganze Komplex der Gesetzgebung seine Interessen schützt und vor allem die Heiligkeit des Gesetzes, die Unantastbarkeit der durch die aktive Willensäußerung des einen und die passive des andern Teils der Gesellschaft einmal festgestellten Ordnung die stärkste Stütze seiner sozialen Stellung ist. Weil der englische Bourgeois in dem Gesetze, wie in seinem Gott, sich selbst wiederfindet, deshalb hält er es heilig, deshalb hat für ihn der Stock des Polizeidieners, der ja eigentlich sein eigner Stock ist, eine wunderbar beschwichtigende Macht. Aber für den Arbeiter wahrhaftig nicht. Der Arbeiter weiß zu gut und hat zu oft erfahren, daß das Gesetz für ihn eine Rute ist, die ihm der Bourgeois gebunden hat, und wenn er nicht muß, so kehrt er sich nicht ans Gesetz. Es ist lächerlich, zu behaupten, der englische Arbeiter habe vor der Polizei Furcht, wo doch in Manchester die Polizei alle Wochen Prügel erhält und voriges Jahr sogar einmal ein Sturm auf ein mit eisernen Türen und schweren Fensterladen gesichertes Stationshaus versucht wurde.« (MEW, 1972, Bd. 2, S. 443f)

 

Was Friedrich Engels nicht vorhersehen konnte, war der von Teilen der Bourgeoisie in unserem 21. Jahrhundert auf den Plan gesetzte Brexit, um viele im Lauf der Zeit erreichte Errungenschaften – Gewerkschaften, Wohlfahrtsstaat, Umweltschutz, die enge Zusammenarbeit im Rahmen der EU und so weiter – nach Kräften auszuhebeln. Präziser, es sind irrsinnig reiche Pressezaren wie Rupert Murdoch und Paul Dacre, die die Brexitkampagne seit über einem Jahr mit ihren Massenblättern Sun und Daily Mail befeuern und zudem im laufenden Wahlkampf hohe Summen investierten, es sind mehrere US-Milliardäre, die nicht nur Trumps Kampagne, sondern auch die Brexit-Kampagne mitgestaltet und -finanziert haben. Ganz zu schweigen von zahlreichen britischen Unternehmern und Bankern, die sich nicht lumpen lassen, um aus Großbritannien genau das zu machen, was es mit seiner gewaltigen Finanz- und Dienstleistungsindustrie für sie idealerweise wäre: eine Insel zum kapitalen Verlieben, ein Steuerparadies. An politischen Helfershelfern mangelt es ihnen nicht. Die von dem Milliardär Arron Banks »geförderte« rechte UKIP hat immerhin das Referendum quasi erzwungen, und die vielen den Brexit als großes Unabhängigkeitsprojekt anpreisenden Tory-Politikerinnen und -Politiker werden bis zum 8. Juni wohl noch einigen scheinbar verspielten Kredit wiedergutmachen. Die Konservativen wollen nicht zuletzt den Gewerbesteuersatz bis 2020 auf magere 17 Prozent runtersetzen; zudem versprechen sie, die Steuerfreibeträge für geringe (£ 12.500) wie hohe Einkommen (£ 50.000) zu erhöhen.

 

Sprich, wo wäre da Hoffnung. An diversen englischen Laternenmasten und Schaltkästen klebten in den Tagen vor der Wahl Sticker mit der Aufforderung: Don’t vote Tory. Reclaim your community that the Tories destroyed. Zu gut deutsch: Wähle nicht Tory. Regeneriere deine Gemeinde, die die Tories zerstört haben. Wenn das viele beherzigt haben, läuft für Theresa May vielleicht doch noch was richtig schief.