Der Blickfang auf dem Weg zum Haus der Berliner Festspiele, einem Spielort des 54. Berliner Theatertreffens, war ein Plakat: »Starke Stücke«. Daneben ein anderes: »Pfusch«. Wollte man beide wörtlich nehmen, wäre die Spannbreite der traditionsreichen Veranstaltung charakterisiert. Gedacht war sie einmal als Forum für die von einer Kritikerjury ausgewählten zehn »bemerkenswertesten Inszenierungen deutschsprachiger Bühnen«. Seismograph für Situation und Entwicklung einer im internationalen Vergleich einmaligen Theaterszene, die zuletzt laut einer aktuellen Statistik des Deutschen Bühnenvereins jährlich rund 20 Millionen Zuschauer/innen in fast 70.000 Veranstaltungen an 112 öffentlich geförderten Theatern zählte.
Als Kern des Theatertreffens ist jene komprimierte Übersicht geblieben, aber immer mehr überwuchert durch andere Veranstaltungen: Neben dem in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung programmierten traditionellen Stückemarkt diesmal beispielsweise Arbeiten des »Internationalen Koproduktionsfonds Goethe-Institut«, Performances, Diskussionen zum Thema »Was hat die digitale Revolution für Einfluss auf das Theater heute?« und Diskurse einer Konferenz »The Art of Democracy«.
Der Hinweis auf »Starke Stücke« bezog sich auf die Ausstrahlung von vier der ausgewählten Inszenierungen in 3sat, die allerdings nicht alle »stark« waren. Und »Pfusch« meinte eine keineswegs verpfuschte Produktion, sondern war Titel einer neuen der gewohnt eigenwilligen, meist textfreien, diesmal ganz musikalischen Burlesken von Herbert Fritsch, aktuell mit ironischen Seitenhieben auf das Ende der Castorf- (und Fritsch-)Ära an der Berliner Volksbühne. Es war die siebente Einladung von Fritsch beim Theatertreffen. Diesmal erhielt der mehrfach Ausgezeichnete den Berliner Theaterpreis. Erinnerung an vergangene Theatertreffen schien auch die Eröffnungsvorstellung zu versprechen: »Drei Schwestern« von Anton Tschechow – nein – von Simon Stone nach Anton Tschechow. Der Hausregisseur des Theaters Basel mit australischen Wurzeln hat den russischen Klassiker radikal (und gelungen) in die Gegenwart geholt. Von Originaltext keine Spur mehr. Olga, Mascha und Irina feiern mit Freunden, Nachbarn und Verwandten Weihnachten, den Geburtstag der Jüngsten und den Auszug aus dem verkauften Ferienhaus der Familie, das als zweistöckiges, dank Drehbühne rundum einsehbares Glashaus Schauplatz von Frustrationen, Auseinandersetzungen, Alkoholkonsum und Sex ist.
Das vielschichtige Spiegelbild heutiger Wohlstandsbürger ergänzte verfremdet en miniature ein zweiter Schweizer Theatertreffenbeitrag: »Die Vernichtung« von Ersan Mondtag und Olga Bach vom Konzert Theater Bern. Die Darsteller/innen, drei männliche, eine weibliche, nackt unter bemaltem Stoff überschminkt, treten aus einem bunten Glasfenster, das auch aus einer Kirche stammen könnte, auf die Bühne, deren Grünzeug das Paradies symbolisieren soll. Die spärliche verbale Kommunikation der Vertreter einer hedonistischen pseudointellektuellen Jugend dreht sich um Drogen, Aggressionen, Gewaltphantasien, auch Aktualitäten wie Flüchtlinge (die auch, inzwischen fast modisches Aperçu, in »Drei Schwestern« angesprochen werden) und mündet in lustlosem mechanischem Sex. Eingerahmt wird das zunehmend wortlose Spiel durch Musik von Brahms und Beethoven. Dazu eingangs ein Appell an das Publikum: »Wir weisen Sie darauf hin, dass es bei der Aufführung sehr laut wird. Bitte benutzen Sie die bereitgestellten Ohrstöpsel.« Und zusätzlich der Hinweis, »dass bei der Aufführung genebelt wird«. Trotz solcher Vorsorge gab es hier die einzigen Buhrufe.
Die hätte eher eine Aufführung des Staatstheaters Mainz mit dem treffenden Titel »Traurige Zauberer« verdient. In der »stummen Komödie mit Musik« von Thom Luz spielt eine Nebelmaschine die Hauptrolle. Zwei Magier erzählen von berühmten Vorgängern ihrer Zunft und einer Schiffskatastrophe, während eine Frau unsichtbare Besuchergruppen durch den Raum führt. Das Ganze wird begleitet von endlosem eintönigen Klavierspiel. Nervtötend.
Wurde frühere Theatertreffen-Auswahl meist durch große Häuser wie München, Hamburg, Berlin oder Köln dominiert, so berücksichtigten die Juroren nach Diskussion von 38 Inszenierungen aus 18 Städten diesmal auch die »Provinz« und gaben Regie-Neulingen eine Chance.
Die interessanteste Entdeckung kam aus Leipzig, wo die dortige Hausregisseurin Claudia Bauer, gebürtig aus Landshut, aber schon DDR-Theater-erfahren, den autobiografischen Wende-Roman von Peter Richter »89/90« als Oratorium auf die Bühne gebracht hat. Der Dresdener Autor, heute mit 43 New-York-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, erlebte jenen dramatischen Umsturz als Teenager, und das macht seine Bühnenvorlage so authentisch. Ein 35-köpfiger Chor, mal Schulklasse, mal Parteiversammlung oder »Volk«, erinnert sich anfangs an die freundschaftlichen nächtlichen Treffen im Schwimmbad und konstatiert später, wie sich einstige Kumpels unter den neuen Verhältnissen entzweien, ja einige zu rechten Schlägern werden. Die »Friedliche Revolution« eröffnet neue Möglichkeiten, mündet aber in Anarchie und Demütigungen der angeschlossenen »Brüder und Schwestern«. Dazwischen wandert immer mal wieder das sechsköpfige Schauspielensemble als dickbäuchige Puppentruppe mit Buratino-Masken über die Bühne. Erinnerungen an die letzten Zuckungen der DDR. Die »Wiedervereinigung« als Groteske, aber unvernebelt.