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Titel1218

1968: Vorbei, aber nicht vergangen  (Klaus Nilius)

Wow, was war das für ein Jahr, dieses 1968. Zehn Seiten widmet ihm Werner Stein, von 1964 bis 1975 Kultursenator in Westberlin, in seinem faktengesättigten synchronistischen Mammutwerk »Der große Kulturfahrplan«.

 

Und was gibt es da nicht alles zu erwähnen und zu benennen und zu rekapitulieren! Hier einige Originalzitate aus der überarbeiteten Auflage, Stand 1. Januar 1993, Tabelle »Politik«:

»Schwere Studentenunruhen in Paris, Rom, Kopenhagen, Tokio; auch in der BRD. – Anti-Vietnam-Krieg-Demonstration und Gegendemonstration in Berlin (West). – Attentat auf den linksradikalen Studentenführer Rudi Dutschke in Berlin. Heftige Studentenunruhen in der BRD, die sich besonders gegen den Zeitungskonzern Springer richten: 2 Tote, mehr als 100 Verletzte. [Anm. K. N.: Bei den Toten handelte es sich um den Pressefotografen Klaus Frings (32) und den Studenten Rüdiger Schreck (27). Sie wurden am Abend des Ostermontags, vier Tage nach dem Attentat auf R. D. in Berlin am Abend des 11. April, auf einer Anti-Springer-Demonstration in München so schwer verletzt, dass sie an den Folgen starben. Der Hergang wurde, wie Ulrich Chaussy in seiner neuen Biografie »Rudi Dutschke« schreibt, nie geklärt.] – Verabschiedung der Notstandsverfassung zum Schutz der Demokratie in Notzeiten. – Warschauer Konferenz der Ostblock-Staaten fordert KP der ČSSR auf, der ›Konterrevolution‹ entgegenzutreten. – Jugoslawischer Präsident Tito besucht ČSSR, um Sympathie mit Reformkurs zu bezeugen (wird begeistert empfangen). SED-Chef Ulbricht verhandelt in Karlsbad mit der ČSSR (kühler Empfang). – Rumäniens Staats- und Parteichef Ceaușescu unterzeichnet in der ČSSR Freundschafts- und Beistandspakt. – Truppen der UdSSR, Polens, Bulgariens und der DDR besetzen die ČSSR, um Reformkurs zu beenden. [Anm. K. N.: Diese Angabe ist falsch; in die ČSSR marschierten neben den Truppen der UdSSR auch Streitkräfte aus Polen, Ungarn und Bulgarien ein; nicht aber die NVA der DDR.] Proteste in aller Welt – NATO verstärkt Kampfkraft. – USA-Präsident Johnson verkündet Einstellung aller Luftangriffe gegen Nordvietnam und Teilnahme von Südvietnam und des Vietkongs an Pariser Friedensgesprächen. – Robert Kennedy stirbt durch Attentat. – Martin Luther King ermordet [hier noch »US-Negerführer« genannt; Anm. K. N.].«

 

Auch das Massaker von US-Soldaten an den Einwohnerinnen und Einwohnern des vietnamesischen Dorfes Mỹ Lai im April 1968 gehörte in diese Aufzählung. Da es aber erst Ende 1969 öffentlich bekannt wurde, ist der Eintrag zu diesem Zeitpunkt in der entsprechenden Tabelle zu finden.

 

Dieses Jahr 1968 mit seinen Hoffnungen und Enttäuschungen, mit seinem Aufbegehren und seinen Revolten, mit seinen Siegen und Niederlagen, mit seiner Wut und Trauer ließ niemand kalt. Zu groß und zu tief waren die Emotionen, zu wuchtig deren Wellen. Es ist Geschichte, Historie, die aber noch in die Gegenwart hineinreicht. Sie ist zwar vorbei, nicht aber vergangen. »Damals entstand in der Bundesrepublik die offene Gesellschaft: jene parteiübergreifende, selbstbewusste Liberalität, die heute durch die Rechtspopulisten angegriffen und bedroht wird. Hoffnung keimte damals auch in der DDR auf. In den Debatten um die Demokratie nach ‘68 spiegeln sich nicht zuletzt die verschiedenen Erfahrungshorizonte Ost und West wider« (Winfried Sträter, DLF Kultur).

 

Und dies nicht nur in der Erinnerung der Zeitzeugen. Wie sehr, das wird zurzeit noch einmal deutlich, 50 Jahre »danach«. Hörfunk und Fernsehen, Verlagsprogramme und Feuilletons überschlagen sich geradezu mit Einordnungen und Sprachregelungen, mit Verklärung und Verteufelung, mit »Was war?« und »Was bleibt?«.

 

Auch der »Freipass«, eine Schrift der Günter und Ute Grass Stiftung, befasst sich in Band 3 mit dem »Widerhall auf das Jahr der Revolten 1968«.

 

In der Nacht des 20. August 1968, als die Panzer aus vier Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei einrollten, hielt sich Heinrich Böll zusammen mit Ehefrau und Sohn auf Einladung des Schriftstellerverbandes in Prag auf. Der »Freipass« thematisiert diesen Aufenthalt und Bölls Reaktion auf die Besetzung: »In diesen Tagen habe ich eine starke Solidarität aller Bevölkerungsschichten erlebt, und ich kann nur hoffen, dass diese Solidarität ihnen helfen wird, das fürchterliche Faktum der Okkupation zu überwinden« (Interview mit der alsbald verbotenen Zeitschrift Literární Listý am 24. August 1968).

 

Günter Grass – »der einzige westliche Intellektuelle, für den osteuropäische Entwicklungen, insbesondere der Prager Frühling, wichtiger gewesen seien als etwa der Pariser Mai« (so der britische Germanist Julian Preece laut Vorwort) – ist mit dem gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Akademie der Künste in Berlin verfassten Brief an den tschechoslowakischen Staatspräsidenten und an andere führende Repräsentanten des Landes vertreten. Die Verfasser zeigen sich in Sorge »um das Schicksal unserer tschechoslowakischen Kollegen, Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller und Publizisten«.

 

Übrigens, der Schriftsteller und Liedermacher Franz Josef Degenhardt hat damals ebenfalls »Zu Prag« Stellung bezogen, prononciert klassenbewusst, zu hören auf der Langspielplatte »Degenhardt live« von den Internationalen Essener Songtagen 1968, hier ein Auszug:

»Seit Tagen rufen sie bei mir an …

Degenhardt sagen sie,

oder, vertraulich, Väterchen:

Nun, was sagen Sie jetzt

zu Prag? ...

Hört Euch diese Typen an,

die Vorsitzenden der Aufsichtsräte,

die Vorstände und Herren der Konzerne …

Sie sind empört,

weil der Aufbau des Sozialismus

gehemmt worden ist

zu Prag …

Die sagen ›das goldene Prag‹.

Und wenn sie Gold sagen

meinen sie Gold …

Nein, mit diesen Herren

teilen wir nicht unsere Wut

über den Sieg der Panzer

zu Prag.«

 

Zu dem zentralen Themenkomplex »Prag, Paris, Berlin und die Folgen«, der den »Freipass« eröffnet, gehört der Augenzeugen-Bericht der Pariser Mai-Juni-Unruhen von Louis F. Peters (Jg. 1939), der eine Sammlung agitatorischer Plakate und Flugblätter aufbaute und noch im selben Jahr in Köln ausstellte. Die Historikern Birgit Hofmann promovierte 2014 zu dem Thema »Der Prager Frühling und der Westen, Frankreich und die Bundesrepublik in der internationalen Krise um die Tschechoslowakei 1968«. Im »Freipass« versucht sie aufzuzeigen, dass es lohnend sein könnte, »den Impuls des Prager Frühlings wieder ernster zu nehmen«. Sie übersieht dabei nicht, dass »der ›Prager Frühling‹ eine kurzlebige Utopie« war, dass der »Liberalisierungsprozess« auch als »Schritt in Richtung Kapitalismus wahrgenommen« werden kann und die »Antworten, die das Prager Reformprogramm gab, historisch spezifische waren«.

 

Außerhalb des Schwerpunktthemas befasst sich der dritte »Freipass« (siehe auch Ossietzky 5/2017) mit dem Bildenden Künstler, Nazi-Gegner und Pazifisten Otto Pankok (1893–1966). Und natürlich mit dem Lebenswerk des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass. Hier bildet der vier Jahrzehnte umspannende Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller Grass und dem »Kritikerpapst« Marcel Reich-Ranicki einen hoch interessanten Schwerpunkt.

 

Für mich persönlich ist in diesem Teil des Buches der 35-seitige Essay von Joachim Kersten über die ziemlich »singuläre Befreundung« von Günter Grass und Peter Rühmkorf eine Fundgrube voller Erinnerungen. Schließlich kannte ich die beiden Schriftsteller seit Mitte der 1980er Jahre bis zu ihrem Tod. Amüsant, was P. R. im August 1990 zu G. G. notiert (auch nachzulesen in Rühmkorfs TABU I): »Radikal aus sich selbst verfasster Charakter, der dazu neigt, bei jedem Meinungsumschwung Proselyten zu machen, mal rein in die Akademie, mal raus aus der Akademie, mal rein in die SPD, mal raus aus der SPD, und bei dem man in Freundschaft stark bleiben muss, um sich nicht für jeden Rösselsprung keilen zu lassen.« (Anm. K. N.: Mit der nicht alltäglichen Wendung »Proselyten machen« spöttelt Rühmkorf über die manchmal sehr drängelnde Art von G. G., Personen für seine Ansicht oder Sache zu gewinnen.)

 

Rühmkorfs Resümee zu der Männerfreundschaft: »Eigentlich haben wir lebenslang an den gleichen Fronten gekämpft und an den gleichen Nüssen geknackt … Als kurzfristiger Dissens: dass ich über den Kommunismus günstiger dachte – vielleicht weil über den Menschen in der Marktwirtschaft schlechter.«

 

 

Volker Neuhaus, Per Øhrgaard, Jörg-Philipp Thomsa (Hg.): »Freipass«, Band 3, 360 Seiten, 37 Abb., Ch. Links Verlag, 25 €