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Titel1218

Illusionen einst und heute – die 68er  (Stefan Bollinger)

Der Zeitgeist tickt heute rechts, nationalistisch, antisozialistisch. Funktionäre der rechtskonservativ-nationalistischen AfD können heute vom »versifften links-rot-grünen 68er Deutschland« reden. Ein CSU-Politiker verkündet lauthals die »bürgerlich-konservative Wende«. In europäischen Parlamenten sitzen mittlerweile solche Kräfte, in Österreich, Italien wie auch in osteuropäischen Staaten und nicht zuletzt in Washington D.C. machen sie – bei allen Unterschieden – Regierungspolitik. Sie steuern auf Konfrontation gegen Minderheiten, Migranten, sozial Schwache, aber auch gegen als bedrohlich empfundene fremde Mächte, seien es Russen, Iraner, Palästinenser ...

 

In solchen Zeiten erwacht das schlechte Gewissen der gesitteten Mittelschicht-Bürger und Intelligenz. Wenn die neu-alte Rechte ihr Haupt erhebt, darf man moralisch empört sein. Endlich mag man sich der eigenen Jugend erinnern – und die ist für viele irgendwie durch die Jahreszahl 1968 charakterisiert. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hatte man die Zeiten der Revolte, des Suchens nach einem Sozialismus, nach gesellschaftlicher und individueller Freiheit oft verschämt versteckt. Denn irgendwie erfolgreich waren die 68er ja damals nicht, und der Verdacht lag nahe, dass wer einst Che, Mao und Ho gut fand, auch Sympathien für die untergegangene DDR oder überhaupt für andere Wege als den der erfolgreichen Bundesrepublik und ihrer Verbündeten hegte.

 

Nun ist man wieder unbefangener, erinnert sich der Demos, der Happenings, der freien Liebe, des Aufbegehrens gegen die Nazi-Vergangenheit von Eltern und Politikern, der Solidarität mit den kämpfenden Völkern im Trikont. Das kann man mit vollem Recht den neuen Nazis und Rechtskonservativen entgegenhalten.

 

Offenbar streiten in der Brust der sich Erinnernden aber zwei Seelen – die des Verklärens der Vergangenheit und die des nüchternen Blicks auf eine heutige Bundesrepublik: ökonomisch stark, wenn auch ob dessen wenig geliebt; mit zunehmend erkennbaren sozialen Verwerfungen; einem politischen Alltag, der vermeintliche Errungenschaften der letzten 50 Jahre irgendwie schlecht aussehen lässt; die immer mehr ins Wanken geratene Demokratie, das Zerbröckeln des klaren antifaschistischen Verständnisses, die von vielen in Frage gestellte multikulturelle Sicht auf ein liebenswertes Europa, kulturelle Vielfalt und offene Grenzen für alle.

 

Es fällt bei vielen Artikeln und Büchern, die sich 1968 widmen auf, dass kaum über tiefere Ursachen reflektiert, nur marginal der globale Charakter dieser Vorgänge begriffen und ansonsten eher nach bestimmten politischen Protestformen Ausschau gehalten wird, um West wie Ost und globalen Süden über einen Leisten zu schlagen. Dass die westdeutsche Nabelschau von Berlin (West) und Frankfurt am Main auch nicht angetan ist, über den erfreulich entspannteren politischen Umgangston und die offenere Lebensweise in der alten BRD hinaus zum Wesen der Dinge vorzudringen, gehört dazu.

 

Zu erinnern ist, dass die entscheidenden Ereignisse 1968 in Saigon, in Paris und in Prag stattfanden. 1968 ist eine Chiffre für wohl zwei Jahrzehnte eines globalen Umbruchs, der die Gesellschaften der beiden Blöcke ebenso wie die Länder der »Dritten Welt« herausforderte und neue Handlungsoptionen eröffnete. Neue Produktivkräfte, die Technologierevolution, forderten in diesen Jahren gebieterisch nach neuen sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen. Unzufriedene Studenten standen für notwendige akademische Massenarmeen der neuen Produktion, die politische Schwäche der bis vor kurzem so starken Arbeiterbewegung hatte etwas mit dem beginnenden Verfall der großen Industrien zu tun, die Vielfalt der Interessenlagen erforderte neue demokratische Artikulationsmöglichkeiten, eine Wirtschaft der Patrons à la France war ebenso wenig zukunftssicher wie die dirigistischer Planungssysteme. Menschen- und Bürgerrechte wurden wichtig; die Allmacht der US-Supermacht und ihrer Verbündeten schwand und war weder in Berlin, noch vor Kuba oder in Vietnam mehr durchsetzbar – außer, es wurde das nukleare Armageddon riskiert.

 

Studenten in Westeuropa waren Sensor und Speerspitze dieses Wandels. Ihre Ziele blieben vage, sie träumten vom Sozialismus, entdeckten Marx, Lenin und deren Mitstreiter wie Widersacher, praktizierten auf der Mikroebene neue kollektivistische Lebensformen und politische Artikulationen. Und doch befanden sie sich – abgesehen von kurzen Flirts mit der Arbeiterbewegung wie im Mai '68 in Paris – eigentlich in Konkurrenz und Konfrontation mit der Arbeiterbewegung, sei sie kommunistisch oder sozialdemokratisch. Der große Gegenentwurf, der überzeugte und gesellschaftliche Akzeptanz wie politische Struktur hätte finden können, blieb aus. Darum konnte diese Bewegung so schnell zusammenbrechen. Die Erfüllung einiger ihrer Ziele, aber auch– unter bundesdeutschen Vorzeichen – das Scheitern des Widerstands gegen die Notstandsgesetze, ließen das Aufbegehren letztlich versanden, auch wenn es immer noch einmal aufflackern konnte.

 

Die Ereignisse im Osten wurden damals wie heute kaum verstanden. Auch dort protestierten – so in Prag, Warschau oder Belgrad – Studenten. Entscheidender war aber eine ökonomische Reformbewegung von oben, die in Berlin, Budapest und Prag einen modernen, leistungsfähigen Sozialismus mit mehr Markt und Leistungsanreizen aufbauen wollte. Und die in Prag an politische Grenzen solcher Reformen stieß und sie durch sozialistischen Pluralismus, eine nicht mehr administrativ, sondern politisch führende KP im politischen Wettbewerb umsetzen wollte.

 

Aber auch ein weiterer Punkt wird gern übersehen. All diese Bewegungen in West wie Ost fanden unter der Blockkonfrontation statt. Jede Entscheidung, jede Aktion wurde von den politischen Entscheidungsträgern und den Machtzentren in Washington wie Moskau unter dieser Brille betrachtet und dementsprechend festgelegt. In Moskau hatte das Politbüro Angst, dass Reformen nach dem Muster des Prager Frühlings außer Kontrolle geraten könnten. Sie schickten Panzer, um das politische Experiment zu beenden, und zerstörten auf Dauer auch die ökonomische Reformbereitschaft ihres Blocks.

 

Im Westen nahmen die Studenten – nach dem Scheitern ihres Kampfes gegen de Gaulle, gegen Notstandsgesetze und dem nur mühseligen Zurückdrehen des Vietnamkriegs – den Einmarsch in Prag zum letzten Anlass für einen radikalen Politikwechsel. Abgesehen von jenen, die in dogmatischen K-Gruppen oder im bewaffneten Untergrund sich verstrickten, begannen die meisten frisch Politisierten den »langen Marsch durch die Institutionen« – für viele durchaus erfolgreich. Dummerweise begriffen sie nicht (und begreifen es oft bis heute nicht), dass das westliche System weit cleverer als die osteuropäischen Regierenden mit dieser fundamentalen Bedrohung des Kapitalismus umging. Die Regierenden ließen neue Lebensweisen, das Aufbrechen der Konventionen, auch die für die Alt-BRD so wichtige antinazistische Ausrichtung gelten. Aber sie sahen die entscheidenden Schwachstellen der 68er-Bewegung: Sie war nicht in der Lage, das kapitalistische Macht- und Eigentumssystem in Frage zu stellen und hatte eine entscheidende Achillesferse: die Begeisterung für Individualismus und anarchistisches Handeln. Sie konnte eingefangen werden, fand ihre Ikonen der Revolte kommerzialisiert und sich in einer neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaft eingegliedert. Unter den Vorzeichen des Individualismus mochte jeder zu seines Glückes und Unglückes Schmied werden, der Kapitalismus aber glücklich und zufrieden fortbestehen. Über Klassen und Klassenkämpfe war und ist kaum noch jemand bereit nachzudenken.

 

Der Vormarsch rechtskonservativ-nationalistischer, teilweise faschistischer Kräfte ist hausgemacht. Der neoliberale Kapitalismus stürzt deren Mitläufer, sie und die Gesellschaft ins Unglück. Die Schwäche der Linken in den vergangenen fünf Jahrzehnten und erst recht nach dem Crash des Realsozialismus ist offenbar. So, wie zumindest im Westen die Bewegung hochtrabend theoretisierte und mit Lebensformen experimentierte, konnte nur eine soziale Gruppe handeln, die hoffen konnte, nicht mit materiellen Nöten auf Dauer leben zu müssen. Die Sorgen der einfachen Arbeiter, Angestellten, der Rentner, der Verlierer oder sich bedroht Fühlenden gerieten aus dem Blick. Revolten, geschweige denn Revolutionen manifestieren sich nicht zuerst in freier Liebe, unkonventionellen Lebensstilen und Freiraum für die Gedanken. Es geht um die Lebenslage der »einfachen Leute«, sie muss sich verändern, und sie müssen dafür gewonnen werden, Tag um Tag und nicht nur in Zeiten eines schlechten Gewissens, wenn bei der »Rückkehr nach Reims« die Intellektuellen Fehlstellen entdecken.

 

 

Stefan Bollinger, Jahrgang 1954, Politikwissenschaftler, schrieb zu diesem Thema ein immer noch aktuelles Buch: »Die unverstandene Weichenstellung«, Reihe: Texte / Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bd. 4, Berlin 2008 – verfügbar unter https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Publ-Texte/Texte_44.pdf