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1968 – wieso weltweit?  (Klaus Hansen)

1968 fanden in 56 Ländern Studentenproteste statt. Überwiegend in den wohlhabenden Ländern der westlich-kapitalistischen Einflusssphäre, von Nordamerika über Europa bis nach Südostasien. George Katsiaficas hat in seinem 1983 erschienenen Buch »The Inspiration of the New Left« auf das Phänomen aufmerksam gemacht, ohne es allerdings zu erklären.

 

Ein gemeinsames Motiv-Paar des Protests lässt sich finden: Einerseits die angesichts des Studentenzuwachses zu klein gewordenen und in ihren Strukturen überalterten Universitäten; zum anderen der Krieg der Amerikaner in Vietnam. (Die landesspezifischen Protestauslöser – in den USA die Rassendiskriminierung, in der BRD die fehlende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zum Beispiel – bleiben hier außer Acht.) Aber reichen überalterte Unis und der Vietnamkrieg aus, um das Phänomen des »Worldwide Youthquake« (Time Magazine), also eines weltweiten Aufbegehrens der jungen Generation, zu erklären?

 

Vier Aspekte können hilfreich sein, das Phänomen der Weltweite, der Globalität des Protestes zu verstehen.

 

 

Erster Aspekt: Das vierte Lebensalter

In den Jahren zwischen 1960 und 1970 stiegen in den von »1968« betroffenen Ländern die Studentenzahlen so stark an wie nie zuvor. In Frankreich zum Beispiel registrierte man eine Verfünffachung der Studierenden binnen dieses Jahrzehnts; in der BRD war es nur eine knappe Verdopplung. Eine neue autonome Gesellschaftsschicht von 20- bis 30-jährigen mit eigenen Milieus und eigener (Sub-)Kultur entsteht. Man beginnt von einem neuen Lebensalter zu sprechen, von der »Postadoleszenz«. Menschen, die rechtsmündige Erwachsene sind, leben weiter im Status der Jugendlichkeit, denn sie befinden sich noch in Ausbildung und Alimentation. Der Ernst des Erwachsenenlebens – Beruf, eigenes Einkommen, Ehe, Kinder – hat sie noch nicht ergriffen. Sie sind keine Jugendlichen mehr und noch keine Erwachsenen, sie sind etwas dazwischen. Waren sie bis dahin eine verschwindende Minderheit, zählen sie jetzt nach Millionen. Zu Kindheit, Jugend und Erwachsenheit tritt das vierte Lebensalter hinzu: die Postadoleszenz.

 

 

Zweiter Aspekt: Das Theorem der Relativen Deprivation

Schulisch gut gebildete Postadoleszente in großer Zahl, denen es materiell passabel geht, entdecken, dass es ihnen verhältnismäßig schlecht geht. Diese Überlegung steht hinter dem Theorem der relativen Deprivation.

 

Die Volkswirtschaften der meisten Länder, in denen die Proteste losbrachen, hatten in den 1960er Jahren die Epoche ihres größten Wohlstands und Wachstums. Und die Studenten, nun massenhaft auftretend und frei von materiellen Existenzsorgen, hatten die »Muße« oder »den Kopf frei«, auf gesellschaftliche Defizite und Versäumnisse aufmerksam zu machen, die trotz Wohlstands und Friedens bestehen. »Manche Völker empfinden ihre Lage umso unerträglicher, je besser sie wird«, hatte Alexis de Tocqueville in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben. Das traf auch auf die protestierenden Studenten der 1960er Jahre zu, zumal sie zu einer Generation gehörten, die über wenige Kontrasterfahrungen verfügte. Krieg und Elend waren vor ihrer Zeit. Zum Kern der Achtundsechziger zählen die Geburtsjahrgänge zwischen 1945 und 1950.

 

Drückende Armut und extreme Ungerechtigkeit, so muss man aus Erfahrung feststellen, führen nicht selten zu Apathie, Resignation und Selbstverachtung statt zu Protest und Rebellion. Erst wenn die ökonomische und politische Situation sich verbessert, werden neue Hoffnungen geweckt, Hoffnungen auf ein Leben, das mehr ist als materielle Sättigung. Es kommen »postmaterielle« Ansprüche und Maßstäbe von Gerechtigkeit, Freiheit und sinnvollem Leben ins Spiel. Auf einmal glaubt man, ein qualitativ besseres Leben liege angesichts von »Wirtschaftswunder« und »Überfluss« in greifbarer Nähe. Werden aber die gesteigerten Hoffnungen nicht erfüllt, dann wird die Kluft zwischen den eigenen Erwartungen und der realen Lage als skandalös empfunden, und die Protestbereitschaft wächst an. Zwar geht es einem heute ökonomisch besser als gestern, aber verglichen mit den Ansprüchen an Unabhängigkeit und Selbstbestimmung befindet man sich im tiefsten Elend, so jedenfalls glaubten es die postmateriell gesinnten Postadoleszenten.

 

Damit der Übergang von der Unzufriedenheit zu Protest und Revolte erfolgen kann, bedarf es der verschärften Interpretation der die Unzufriedenheit hervorbringenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Soziale Lagen und Situationen sind selten eindeutig, man muss sie eindeutig machen. Dafür sorgten die wortgewaltigen Anführer der Studentenproteste, in Deutschland war es vor allem Rudi Dutschke, der marxistisch, also kapitalismuskritisch geschult und ein Meister der rhetorischen Zuspitzung war.

 

 

Dritter Aspekt: Die audiovisuelle Globalisierung

Die Studenten der mittsechziger Jahre hatten zum ersten Mal durch neue Technologien einen sinnlichen Zugang zur Welt und konnten weltweit und ohne große Mühe voneinander wissen, lernen und sich gegenseitig bestärken. Sie waren die erste weltweit vernetzte »Fernsehgeneration«. Dass bei Großdemonstrationen in Berlin Solidaritätsadressen Gleichgesinnter aus Los Angeles, Paris und Tokio in bewegten Bildern gezeigt wurden, war keine Seltenheit – und stiftete zugleich das erhebende Gefühl, Teil einer protestierenden Weltgemeinschaft zu sein. Film und Fernsehen hatten die Gesellschaft erobert, auch als alltäglicher Gebrauchsgegenstand in Gestalt von Schmalfilmkameras. Namentlich das Fernsehen schickte sich an, zum »Leitmedium« zu werden und Radio und Zeitung den Rang abzulaufen.

 

 

Vierter Aspekt: Die virale Diffusion

Erst durch das flächendeckend verbreitete Fernsehen war die »ansteckende Ausbreitung« – das meint der Ausdruck »virale Diffusion« – ungeheurer Ereignisse optisch-akustisch und live, also zeitgleich mit ihrem tatsächlichen Geschehen, erstmals möglich geworden. Der Vietnamkrieg war der erste Krieg, der im Fernsehen zeitnah übertragen wurde. Mit all seiner Brutalität und Unmenschlichkeit. Die Bilder und Töne aus der Dritten Welt trafen auf Heranwachsende in der Ersten Welt, die, weil noch wenig mediengewöhnt, keine seelische Hornhaut ausgebildet hatten und darum empfindlich und erschütterbar waren. – Ohne diese Medienrevolution keine weltweite Postadoleszentenrevolte!

 

 

Fazit

Diese Summierung von Erstmaligkeiten macht das Exzeptionelle von ’68 aus: Ein neues Lebensalter, das sich zwischen Jugend und Erwachsensein schiebt, tritt auf den Plan, die Postadoleszenz. Die Idee der relativen Armut angesichts des objektiv real möglichen Wohllebens für weltweit alle sorgt für Empörung bei den Gebildeten unter den Heranwachsenden. Das kapitalistische Wirtschaftssystem wird als Haupthemmnis des humanen Fortschritts entdeckt. Ein neues Massenmedium schafft eine bis dato nicht dagewesene Globalisierung, das Fernsehen. Und eine rechtsstaatliche Demokratie, für viele Staaten ebenfalls neu, für Deutschland zumal, sorgt für eine gewisse kulturelle Permissivität und damit für ein begrenztes Risiko der Aufbegehrenden und Protestierenden.

 

 

Kaus Hansen, Dr. phil., entpflichteter Professor für politische und kulturelle Bildung. Jüngstes Buch: »DRAUSSEN NUR ÄNNCHEN«, Wortspielereien, Roland Reischl Verlag, 112 Seiten, 12,95 €