Ziel der 68er sei es in Abgrenzung zur Elterngeneration gewesen, mit »Liebe und Zärtlichkeit« »den Nazi in sich zu bekämpfen«. Darüber klärte Ex-Kommunarde Rainer Langhans das nachgeborene Publikum in einer Fernsehtalkshow Ende April 2017 auf. Mit dem weiterhin medial präsenten einstigen Bürgerschreck Langhans wird die Karikatur eines 68ers präsentiert – mit dem Effekt, dass andere, den Herrschenden bis heute unbequeme Inhalte der 68er Bewegung, ausgeblendet werden.
Es ging uns weniger darum, den »Nazi in uns« zu bekämpfen, als die vertuschten Verbrechen des Faschismus zu thematisieren, faschistische Kontinuitäten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu entlarven und den »Muff von tausend Jahren« unter den Talaren auszukehren. Frühere Nazis fanden sich wieder in hohen Staats- und Regierungsämtern, allen voran Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU), der als NSDAP-Mitglied in der Propagandaabteilung des Reichsaußenministeriums tätig gewesen war.
Wir wollten wissen, welche Kräfte dem Faschismus zur Macht verholfen hatten. Dabei fragten wir nicht nur nach der psychologischen Prägung eines autoritären Charakters, sondern auch danach, wer Hitler bezahlt und wie das Großkapital von der Nazidiktatur profitiert hatte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) gehörte als Keimzelle der späteren Außerparlamentarischen Bewegung (APO) bereits Anfang der 1960er Jahre zu den wenigen politischen Gruppen, die sich mit der faschistischen Vergangenheit Deutschlands auseinandersetzten. Doch diese Beschäftigung mit dem Faschismus war in der zweiten Hälfte der 60er Jahre längst nicht mehr nur Aufarbeitung der Vergangenheit. Denn Ende 1964 hatte sich mit der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) eine offen neonazistische Partei als Sammelbecken früherer NSDAP-Mitglieder gegründet. Aus dem Stand erhielt die NPD bei den Bundestagswahlen 1965 zwei Prozent. Zwischen 1966 und 1968 gelang ihr der Einzug in sieben Landesparlamente, in Baden-Württemberg sogar mit fast zehn Prozent der Wählerstimmen. Für uns als linke Lehrlinge und Studenten war das Wiederaufleben einer faschistischen Partei ein Schock, wir waren entschlossen, dem unseren Widerstand entgegenzusetzen. Eine fünfwöchige Wahlkampftour des NPD-Vorsitzenden Adolf von Thadden anlässlich des Bundestagswahlkampfes 1969 genügte dann, um das bieder-konservative Image, das sich die Partei zu geben bemüht war, weitgehend zu zerstören. Überall, wo von Thadden auftrat, wurde er mit Eiern und Tomaten beworfen und die Parole, »ein Adolf war genug«, ertönte. Der mit Schlagstöcken ausgerüstete Ordnerdienst der NPD prügelte im Juli 1969 auf einer NPD-Versammlung in Frankfurt Gegendemonstranten bis zur Besinnungslosigkeit. Einmal schoss der Leiter des Ordnerdienstes sogar mit einer scharfen Waffe auf Gegendemonstranten. Die Bilder der prügelnden NPD-Ordner gingen durch die deutsche und internationale Presse. Schließlich scheiterte die NPD mit 4,3 Prozent bei der Bundestagswahl an der Fünfprozenthürde. Selbst der Politologe Wolfgang Kraushaar, der heute kaum ein gutes Haar an der 68er-Bewegung lässt, der er einst angehört hatte, gesteht ihr zu, den Einzug der NPD in den Bundestag verhindert und so die Bildung der sozialliberalen Regierungskoalition ermöglicht zu haben.
Weniger erfolgreich als in der Abwehr der offenen Faschisten war die APO darin, den Angriff auf die Demokratie in Form der Notstandsgesetze zu verhindern. Ein Notstandsrecht, das im Verteidigungsfall aber auch bei inneren Unruhen und Naturkatastrophen die Stellung der Regierung gegenüber dem Parlament massiv stärkt, Grundrechte einschränkt und Regelungen zum Einsatz der Bundeswehr im Inland beinhaltet, wurde vom Bundesverband der Deutschen Industrie seit den 50er Jahren eingefordert. Bislang war das allerdings an der SPD gescheitert. Doch angesichts einer anwachsenden Friedensbewegung und der Proteste gegen den Vietnamkrieg erschien der seit Ende 1966 regierenden Großen Koalition eine solche Ausnahmegesetzgebung nun auch zur Systemverteidigung im Inland geboten.
Diese Pläne zu einer präventiven Konterrevolution stießen auf den Widerstand einer Bürgerrechtsbewegung, die vom SDS über den DGB bis zu den Freien Demokraten reichte. Ein Kuratorium »Notstand der Demokratie« warnte vor diktatorischen Zügen, die der Staat durch die Notstandsgesetze erhalte – eine Auffassung, die durch die tödlichen Polizeischüsse auf Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin bestätigt schien. »SPD und CDU: Lasst das Grundgesetz in Ruh!« ertönte auf den Kundgebungen der APO. Am 11. Mai 1968 demonstrierten mehr als 60.000 Menschen mit einem Sternmarsch auf Bonn, darunter auch Prominente wie Heinrich Böll. »Notstandsrecht ist Rechtsnotstand – die Antwort des Volkes ist Widerstand« hieß es auf dem von roten Fahnen umwehten Fronttransparent.
Die Befürworter der Notstandsgesetze argumentierten im Bundestag gerade mit den »Unruhen der Jugend« wie den militanten Protesten gegen die Auslieferung der Bild-Zeitung nach dem Attentat eines Neonazis auf SDS-Vordenker Rudi Dutschke. Trotz massiver Proteste stimmte der Bundestag am 30. Mai 1968 mit der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit für die Notstandsgesetze.
Diese Erfahrung mit der Staatsgewalt und einer sich über alle Bedenken dampfwalzenartig hinwegsetzenden Regierungskoalition trug 1968 viel zur Radikalisierung von Menschen bei, die aus einem demokratischen und liberalen Selbstverständnis heraus begonnen hatten, sich politisch zu engagieren.
Viele 68er sind längst zu Renegaten geworden, die imperialistischen Kriegen und neoliberaler Ausbeutung das Wort reden. Wendehälse versuchten, die Geschichte umzuschreiben, um mit ihren eigenen Biographien ins Reine zu kommen. Doch das Erbe von 1968 gilt es weiterhin zu verteidigen. Denn die damals aufgeworfenen Fragen haben in Zeiten, in denen die AfD ihre rassistische Hetze im Bundestag verbreiten kann und Grundrechteabbau im Namen der Terrorbekämpfung betrieben wird, nichts von ihrer Aktualität verloren.