Sie haben sich gefälligst anzupassen an unsere Wertvorstellungen von Disziplin, Ordnung und Moral. Das muss durchaus auch mit Gewalt durchgesetzt werden; jedes Verständnis ist fehl am Platz und würde nur ausgenutzt. Man muss sie wegsperren, der Strafcharakter ist beabsichtigt, denn er dient der Abschreckung und damit der Gefahrenabwehr. Die Arbeitskraft der Insassen zu nutzten ist aber nur billig und recht.
Nein, die Rede ist nicht von Flüchtlingen im Deutschland des 21. Jahrhunderts, sondern von Kindern und Jugendlichen in Heimen der jungen Bundesrepublik Deutschland. Die bürgerlichen Wertmaßstäbe von Disziplin, Zucht und Ordnung in den 1950er und 60er Jahren traf Kinder und Jugendliche, die – aus welchen Gründen auch immer – sich nicht anpassen konnten oder wollten, mit aller Gewalt. Sie galten als verwahrlost und kamen in eins der 3000 Heime, von denen sich bis zu 80 Prozent in kirchlicher Hand befanden.
Inzwischen ist bekannt, dass dort häufig Ausbeutung und Gewalt herrschten, dass Entmündigung, Erniedrigung sowie körperliche und seelische Vergewaltigung eventuell vorhandenen Verletzungen neue traumatische Wunden zufügten. Sicher gab es hilfsbereite, einfühlsame Nonnen und ErzieherInnen; aufgrund der Struktur und der Zielsetzung der Heime waren aber solche Haltungen kontraindiziert ebenso wie ein Verständnis für die Ursachen von unangepasstem Verhalten. Also hatten die Zöglinge auch keine Rechte, denn sie waren als triebhaft, debil, moralisch haltlos und verwahrlost abgestempelt; sie bedurften also einer harten Hand und der Erziehung zur und durch Arbeit. In den 50er und 60er Jahren durchlitten die Kinder und Jugendlichen in Heimen einen grausamen Alltag ohne Menschlichkeit.
Als besonders brutal erwiesen sich die Landesfürsorgeheime, in denen das Ziel vorherrschte, den Willen der jungen »Verwahrlosten« mit aller Gewalt zu brechen (vgl. Peter Wensierski: »Schläge im Namen des Herrn«, DVA/Spiegel-Buchverlag 2006). In den Heimen galten keine Menschenrechte oder Regeln normaler zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Sprache der Ämter und Fürsorgeeinrichtungen strotzte vor Abwertung und Diskriminierung; noch lange hielten sich in »Erhebungsbögen« rassistische Begriffe. Damit zeigten sich allerdings diese Institutionen als Teil der Gesellschaft und der vorherrschenden Normen. Diese Zustände hätte man zwar schon damals abstellen können; die Kontrollinstanzen sahen aber keinen Grund dafür. Sie teilten wohl die Erziehungsziele und -methoden. Die Jugendämter arbeiteten noch auf der Grundlage des (Reichs-)Jugendwohlfahrtsgesetzes von 1922, und in vielen Einrichtungen hatte in den Nachkriegsjahren kein grundlegender Wandel stattgefunden, weder beim Personal und dessen Normvorstellungen noch bei den Erziehungszielen, die noch vom Faschismus geprägt waren. Eine grundsätzliche Änderung der Verhältnisse konnte nur durch öffentlichkeitswirksame Aktionen erreicht werden.
Ulrike Meinhof deckte die Missstände auf. Sie übte ab Mitte der 1960er Jahre radikale Kritik an den Zuständen in Heimen; in zahlreichen Artikeln prangerte sie die persönliche und strukturelle Gewalt an. Ihr Einsatz verband sich mit der aufkommenden Revolte der Studenten und der APO (außerparlamentarische Opposition). Besonders in Berlin und Frankfurt starteten Aktivisten eine Heimkampagne, die einerseits auf die skandalösen Verhältnisse aufmerksam machen sollte, andererseits die Rebellion in die Fürsorgeheime trug. Übrigens kam Ulrike Meinhof im Rahmen der Kampagne mit den späteren RAF-AktivistInnen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Astrid Proll zusammen. Nach zahlreichen Revolten flohen Jugendliche aus Heimen und kamen erst mal in den neu entstandenen Kommunen und Wohngemeinschaften unter. Denn ideologisch suchte die Bewegung ohnehin die Verbindung mit »Randgruppen«, um das revolutionäre Potential der Deklassierten zu nutzen.
Einer These des deutsch-US-amerikanischen Philosophen Herbert Marcuse zufolge war nämlich ein Großteil der Arbeiterschaft in den entwickelten kapitalistischen Ländern schon so angepasst und korrumpiert, dass eine radikale Änderung der Verhältnisse nur noch von den am meisten unterdrückten und ausgeschlossenen »Randgruppen« zu erwarten war. Hier irrte allerdings Marcuse. Unterdrückung und Leid führen keineswegs zu selbstbewusstem, klassenkämpferischem Aufbegehren – eher im Gegenteil. Die in der Heimkampagne engagierten StudentInnen mussten bald erkennen, dass die Lebenswelten und -perspektiven derart unterschiedlich waren, dass sich ein gemeinsamer Kampf sehr schnell – von einigen Ausnahmen abgesehen – als Illusion erwies.
Die Heimkampagne erreichte dennoch etwas Wesentliches, nämlich eine intensive Auseinandersetzung mit den Moralvorstellungen und den Zielen der autoritären Erziehung und notwendigen Alternativen. Der Fernsehfilm »Bambule. Fürsorge – Sorge für wen?« von Meinhof (https://www.youtube.com/watch?v=Lss8rxjjXIM) befasste sich damit; er sollte 1970 gezeigt werden, wurde aber 24 Jahre lang unterdrückt. Das Buch erzielte dennoch eine enorme aufklärende Wirkung. Auch Bücher von Manfred Kappeler (»Gefesselte Jugend. Fürsorgeerziehung im Kapitalismus«, Suhrkamp 1971) oder Prodosh Aichs Sammelband »Da weitere Verwahrlosung droht. Fürsorgeerziehung und Verwaltung« (Rowohlt 1973) beeinflussten Generationen von jungen Leuten, die in pädagogische Berufe gehen wollten. Autonome Jugendzentren entstanden, und die Mitarbeit in selbstverwalteten Projekten mit gesellschaftlich Ausgeschlossenen hatte auch für Heime und Jugendämter einen »Kollateraleffekt«, nämlich die allmähliche Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen, die nicht bei ihren Eltern leben konnten.
Die Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Aufwachsens, mit Armut und Gewalt, Geschlechtsrollen und Unterdrückung, hörte nicht auf, nur weil Heimkinder sich nicht als revolutionäre Subjekte gezeigt hatten. Im Lauf der folgenden Jahre entwickelten sich »Zuchtanstalten« zu pädagogischen Einrichtungen mit dem Anspruch, Kindern in Notlagen eine Perspektive zu bieten. Dass Armut und Ungleichheit nach wie vor Hauptursachen für familiäres Elend und persönliches Leid sind, ist nicht den Heimen und der Vielzahl pädagogischer Alternativen anzulasten; eher schon die Tendenz, politisch verursachte Probleme zu individualisieren (vgl. Georg Rammer: »Christian und das staatliche Wächteramt«, Ossietzky 6/2014).
Alles gut also? Keineswegs. Hatte die brutale Fürsorgeerziehung ihre Wurzeln in autoritären Menschenbildern und (nach)faschistischer Ideologie, ist die heutige Gleichgültigkeit und Menschenfeindlichkeit – etwa gegenüber Flüchtlingsfamilien, deren Kinder in Heimen und Lagern institutionellen Rassismus und massive Ablehnung erleben – in der Verwertungsideologie des neoliberalen Kapitalismus verankert. Gegen die von der Bundesregierung geplanten »Ankerzentren« für Asylbewerber regt sich deshalb heftiger Widerstand. Diese Lager seien »massenfeindliche Unterkünfte […] hinter Mauern und Stacheldraht« (Berliner Zeitung, 5.4.2018). 24 Verbände und zivilgesellschaftliche Organisationen warnen vor einer Politik der Abschreckung, Abschottung und Ausgrenzung, die Kindern und Jugendlichen elementare Rechte vorenthält (www.der-paritaetische.de/fachinfos/ankerzentren-stoppen-gemeinsame-stellungnahme-von-24-verbaenden-und-organisationen/). Die Revolte von 68 hat aber in Köpfen und Seelen autoritärer Persönlichkeiten nachhaltige Erschütterungen hinterlassen. Das zeigt exemplarisch ein Artikel in den Badischen Neuesten Nachrichten. Der Redakteur beklagt: »Der Geist von 68 schwebt über der ganzen Entwicklung wie ein Verhängnis« – mit der Funktion eines »Brandbeschleunigers«. Die Grundfesten der Gesellschaft seien erschüttert (»Allmacht der Moral«, 11.5.2018). Der Hass auf und die Angst vor Emanzipation sind gesellschaftlich wieder wirkmächtig.