1968 begann ich mein Lehrerstudium, und in diesem unruhigen Jahr der vielen Anregungen haben wir Pädagogikstudenten selbstverständlich ausführlich über Erziehung gestritten. Wie sollten wir unseren späteren Beruf ausüben? Aus England kamen Ideen für eine nichtautoritäre Erziehung zu uns herüber. A. S. Neill und sein »Summerhill«, die Schule gänzlich ohne Zwang, bewegten uns. Wir selber hatten ja noch unter autoritären Lehrern gelitten, die aus geringstem Anlass schlugen und von denen einige auch noch tief im Nazisumpf steckten. Ich hatte so einen Lehrer, der sich, wenn er nach seinen Kegelabenden morgens besoffen in die Schule kam, von einem Mitschüler das Horst-Wessel-Lied vorsingen ließ, worauf ihm die Tränen über die Wangen liefen. Wehe, wir lachten oder protestierten gar, dann wurden wir geschlagen, bis wir bluteten. Nein, so ein Lehrer wollten wir nicht werden, auf keinen Fall.
Aber während meine Mitstudenten alles über Bord werfen wollten, was Schulunterricht bisher ausgemacht hatte, geriet ich schnell in Distanz zu ihnen. Schon die Bestimmung, welche Lernstoffe unterrichtet werden sollten und welche nicht, sei autoritär, weil es bürgerliche Lernstoffe seien, wurde verkündet. Ich kam aber aus einer Bergarbeiterfamilie und war froh gewesen, mir sogenanntes bürgerliches Wissen, also Kenntnisse über Literatur, Musik, Geschichte und mathematische Formeln aneignen zu dürfen. Was daran nun abzulehnen sei, verstand ich nicht. Im Gegenteil, dies sollten alle lernen, fand ich. Die griffige Formel »Bildung für alle« gefiel mir besser. Schüler sollten, das war mir auch klar und später meine pädagogische Praxis, über Unterrichtsinhalte mitbestimmen dürfen, zum Beispiel über die Lektüreauswahl im Deutschunterricht. Natürlich erst, nachdem sie sich in Referaten kundig gemacht hatten. Nicht Lernstoffe ablehnen, sondern so viel wie möglich den Schülern beibringen, das schien mir das richtige Ziel zu sein. Und dabei auch eine kritische Auseinandersetzung über die Lernstoffe anstreben.
Sollen wir überhaupt erziehen, war unsere nächste Fragestellung. Jede Erziehung ist doch Einübung in vorgegebene Strukturen, ist also autoritär, da nicht selbstbestimmt. Der Lehrer als reiner Wissensvermittler, das schien eine schlüssige Option zu sein. Neill und sein »Summerhill« machten es doch vor. Dort entschieden die Schüler selbst, ob sie am Unterricht teilnahmen oder nicht.
Auch das machte mich stutzig. Ich war doch als Arbeiterjunge froh gewesen, an anspruchsvollem Unterricht teilnehmen zu dürfen. Und dass Schulunterricht völlig regellos ablaufen sollte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich las also Neills reformpädagogisches Buch und stellte fest, was ich schon vorher geahnt hatte. Auch an seiner Schule ging es nicht ohne Regeln ab, im Gegenteil, es waren sogar viele. Allerdings gab es den Freiraum, zum Unterricht kommen zu dürfen oder nicht, tatsächlich. Das war aber nichts anderes als die pädagogische Geduld, zu warten, bis die Schüler wieder Lust auf Unterricht hatten. Auch bei ihm war also das Lernen das eigentliche Ziel. Meine Kommilitonen haben es mit der Zeit ebenfalls so verstanden.
Und um Schüler, die in ihrer Sozialkompetenz, wie man heute sagen würde, deutliche Defizite zeigten, kümmerten sich zur Not alle Schüler von Summerhill und versuchten, sie auf einen sozialverträglichen Weg zu bringen. Von wegen, völlig autoritätsfreie Schule.
Die Diskussionen, die wir damals führten, waren hitzig, sie waren an utopische Zielvorstellungen geknüpft, aber gerade deshalb fruchtbar, kann ich aus heutiger Sicht, nach einem langen Lehrerleben, zufrieden feststellen. Die Lust an Experimenten in der Schule ist vielen von uns in all den Jahren nicht verlorengegangen. Mir ging es vor allem um kreative Unterrichtsformen, um die Entwicklung von Phantasie anhand von Schreibübungen. Allerdings habe ich auf manches »Experiment«, das uns die Schulbehörde vorschrieb, mit passivem Widerstand reagiert. Was mir nicht einleuchtete, habe ich nicht mitgemacht, fertig. Und siehe da, drei, vier Jahre später stand ich mit meiner »alten« Konzeption wieder an der Spitze der behördlichen Reformvorschläge.
Wir haben aus den Diskussionen aber auch noch etwas anderes mitgenommen: Erziehen ja, doch mit so wenig Zwang wie möglich. Mit Bekräftigung, mit Lob also und nicht zuletzt mit Geduld kann man mehr erreichen als mit Strenge und ewiger Meckerei. Reversibel mit den Schülern reden, haben wir uns ebenfalls im Geiste der 68er vorgenommen. So wie ich die Schüler anspreche, welchen Tonfall und welche Worte ich wähle, so dürfen sie auch mit mir sprechen, heißt das. Auch das war eine klare Abkehr von unseren autoritären Lehrern. Prügeln war sowieso ein Ding der Unmöglichkeit. In Nordrhein-Westfalen wurde es übrigens von meinem ersten Lehrer abgeschafft. Jürgen Girgensohn hieß er, wurde später ein reformfreudiger Kultusminister und verbot als eine seiner ersten Amtshandlungen das Prügeln an der Schule. Er selber hatte es auch nie nötig gehabt, ich habe ihn immer verehrt.
Wenn sich die Arbeit mit einer Schulklasse eingespielt hatte, lief der Unterricht sowieso ohne große Erziehungsmaßnahmen. Es war dann ein angenehmes Lernklima, bei dem auch mal herzlich gelacht werden durfte. Lernstoffe, deren Vermittlung mit Lachen verbunden ist, bleiben den Schülern übrigens besser im Gedächtnis als solche, die mit Druck vermittelt werden.
Mit der Zeit mendelte sich aus all unseren Debatten ein Erziehungsstil heraus, den wir in Anlehnung an die Erziehungspsychologen Tausch/Tausch »sozial-integrativ« nannten. In einem Koordinatenkreuz kann man es gut veranschaulichen. Die waagerechte Koordinate zeigt die emotionale Komponente, beginnt bei minus drei auf der linken Seite, was kalten Unterricht bedeutet bis zu plus drei, was ein warmes, angenehmes Lernklima aufzeigt. Die senkrechte Koordinate zeigt von null bis sechs das Ausmaß der Lenkung, also der Autorität, wenn man so will. Sozial-integrativer Unterricht kommt mit mittlerer Lenkung aus, Faktor drei, besser noch weniger, und ist auf der emotionalen Ebene deutlich im Plusbereich, da ja zur Lenkung auch Bekräftigung und Lob gehören, was bei Schülern eben gut ankommt und Lust auf weiteren Unterricht weckt. Der autoritäre Erziehungsstil dagegen fußt auf einem Höchstmaß an Lenkung (plus fünf) und emotionaler Kälte. Die antiautoritäre Erziehung verzichtet auf Lenkung, liegt dort bei null, ist damit aber auch emotional neutral. Nicht kalt, nicht warm. Gut, das ist ein grobes Schema, aber als Konzept im Hinterkopf eines Lehrers ist es nützlich.
In den letzten Jahren meines Lehrerdaseins wurde das Erziehen an der Schule übrigens immer wichtiger, was viele Gründe hat. Unter anderem den, dass Eltern auf anstrengende Erziehung verzichten oder die Freunde ihrer Kinder sein möchten und alles Unangenehme, das mit Erziehung zusammenhängt, also die Kinder begleiten, ihnen Regeln erklären, die sie freilich selber auch einhalten müssten, den Lehrern überlassen. »Für das Erziehen sind Sie zuständig«, hat mir mal ein Vater gesagt, »Sie sind der Profi, nicht ich.« »Wenn ich das für Sie übernehmen soll, müssten Sie mir aber eine Gehaltserhöhung bezahlen«, habe ich geantwortet. Ob ich ihn damit zum Nachdenken gebracht habe, weiß ich nicht. Was er von unseren ganz frühen Diskussionen, als wir das Erziehen insgesamt ablehnen wollten, gehalten hätte, wage ich mir gar nicht vorzustellen. Kinder solcher Eltern hätten den Freiraum, den wir ihnen mit so einer Konzeption gelassen hätten, sicher gern genutzt. Ich kann mir auch vorstellen, wozu.