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Titel1218

»Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine«  (Gisela Notz)

Die weltweiten Revolten, die rund um die 68er-Bewegung die Ordnung vieler Länder erschütterten, haben ihre Spuren hinterlassen, und sei es in Form uneingelöster Versprechen. Dieser Epoche wird oft bescheinigt, dass sie politisch »überinterpretiert« sei. Das kann man von den 1968 entstandenen Neuen Frauenbewegungen in der BRD nicht sagen. Sie werden meist als Folge der Studentenbewegungen behandelt. Schließlich waren die beteiligten Frauen Teil der Studentenbewegung. Allerdings haben sie auch wichtige Impulse aus der US-amerikanischen und französischen Frauenbewegung empfangen, denn die internationale Gleichzeitigkeit war erstaunlich. Zum Symbol für die bundesdeutsche Frauenbewegung und deren Aufbegehren in der linken, studentischen Bewegung wurde Sigrid Rügers Tomatenwurf am 13. September 1968 nach der Rede von Helke Sander auf der 23. SDS-Delegiertenkonferenz in Frankfurt/Main. Die Genossinnen erklärten dort, dass sie nicht länger nur die ganze Welt befreien wollten, sondern auch sich selbst (siehe hierzu meinen Artikel in Ossietzky 9/2018).

 

Mein Bauch gehört mir

Eine Massenbewegung, die weit über die studentischen Diskussionsgruppen hinausreichte, formierte sich in der Bundesrepublik allerdings erst in den Kampagnen gegen den Abtreibungsparagraphen 218 des Strafgesetzbuches. Der Paragraf stammt aus dem Jahr 1871. Er hatte im Laufe der Geschichte einige Veränderungen erfahren, war im Nationalsozialismus verschärft und nach 1945 in seiner alten Form wiederhergestellt worden. Eine Abtreibung wurde für die Schwangere mit einer Gefängnisstrafe oder Zuchthaus von ein bis fünf Jahren beziehungsweise von ein bis zehn Jahren für eine Person, die die Abtreibung vornahm, geahndet. Die sozialliberale Koalition (SPD/FDP) hatte bei ihrem Regierungsantritt 1969 versprochen, die bereits unter der Großen Koalition begonnene Reform des § 218 fortzusetzen. Die konservativen Parteien und die Kirchen blockierten jedoch jede Reformierung.

Für die neu entstandenen Frauenzusammenhänge bildeten die Abtreibungskampagnen bald den Kristallisationspunkt der Bewegung. Bereits im Sommer 1970 machte die Frankfurter Frauenaktion 70 mit Straßenaktionen auf das Thema aufmerksam. Sie war aus der Fusion einer seit 1969 bestehenden Frauengruppe der Humanistischen Union und eines Arbeitskreises der Frankfurter Volkshochschule entstanden. In der Frauenaktion waren Frauen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Zusammenhängen, religiösen Richtungen und politischen Gruppierungen aktiv. Trotz anfänglicher Unstimmigkeiten zwischen autonomen und sozialistischen Gruppen waren sich die Frauen schnell in der Zielformulierung einig: Ersatzlose Streichung des § 218; das beinhaltete auch die Streichung von § 219, der dann überflüssig wurde. Frauen gingen auf die Straße, verteilten Flugblätter, sammelten Unterschriften, organisierten Busfahrten zu Abtreibungsmöglichkeiten im liberaleren Holland. Außerdem wurden Karteien von Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführten, angelegt. Der Slogan: »Mein Bauch gehört mir!« wurde zum Markenzeichen des bundesdeutschen Feminismus. Er artikulierte die Forderung nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Die einsetzenden Bewegungen zur Liberalisierung des Abtreibungsrechts wurden von scharfen Debatten und Protesten, besonders durch Vertreter der christlichen Kirchen, begleitet.

 

»Wir haben abgetrieben!«

Zum Medienereignis wurde die Auseinandersetzung um den § 218 allerdings erst, als unter Alice Schwarzers Regie 374 prominente Frauen aus Politik, Film und Fernsehen auf dem Titelblatt der Illustrierten Stern bekannten: »Ich habe abgetrieben [...]. Ich bin gegen den § 218 und für Wunschkinder [...]. Wir fordern ersatzlose Streichung des § 218 und umfassende sexuelle Aufklärung für alle und freien Zugang zu Verhütungsmitteln! [...]« 3000 Frauen, egal ob sie abgetrieben hatten oder nicht, schlossen sich der Kampagne an, 86.100 Solidaritätsunterschriften folgten und forderten die ersatzlose Streichung des Paragrafen § 218. Diese Frauen hatten nicht nur einen radikalen Tabubruch begangen, sondern auch das persönliche Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung auf sich genommen. Konservative Kreise und die christlichen Kirchen kritisierten die Aktion massiv und erstatteten Strafanzeige gegen einzelne Frauen. Die Verfahren wurden jedoch eingestellt. Tausende von Anklagen hätten den revoltierenden Frauen in die Hände gespielt. Nachdem die Unterschriften dem damaligen Bundesminister Jahn (SPD) übergeben worden waren, kamen mehrere Entwürfe zur Reform des Strafrechts in den Bundestag, die aber erst nach der Regierungsbildung unter Willy Brandt (SPD) ab 1972 nach und nach beraten wurden.

Als vom 11. bis 13. März 1972 beim ersten Bundesfrauenkongress in Frankfurt circa 400 Frauen aus 20 Städten anwesend waren, jubelten die Frauen der Aktion 218: »Alles in allem kann es über eins nach dem Kongress keinen Zweifel mehr geben: Wir haben eine deutsche Frauenbewegung.«

Die im April 1974 durch den Bundestag verabschiedete »Drei-Monats-Fristenlösung« wurde zwei Monate später vom Bundesverfassungsgericht wieder außer Kraft gesetzt. Zahlreiche Demonstrationen folgten. Am 12. Februar 1976 wurde das sogenannte »erweiterte Indikationsmodell« verabschiedet, verbunden mit einer Zwangsberatung für die Schwangere. Die ersatzlose Streichung des § 218 rückte damit in weite Ferne.

Wir – bewusst benutze ich das kollektive »wir Feministinnen«, obwohl ich weiß, dass nicht alle die gleichen Interessen hatten und haben – waren Anfang der 1970er Jahre überzeugt: Wir erleben noch, dass die Welt anders und besser wird, dass Frauen selbst über ihr Leben und ihre Körper bestimmen können. Heute, 50 Jahre später, hat sich diese Hoffnung nicht bestätigt. Der Paragraf steht immer noch im Strafgesetzbuch. Weiterhin in Kraft ist auch der Paragraf 219a, der bereits die bloße Information, dass ÄrztInnen Abbrüche vornehmen, als »Werbung« für Schwangerschaftsabbrüche bestraft (siehe Ossietzky 6/2018). Wir Frauen gehen immer noch auf die Straße und führen Kämpfe, von denen wir gehofft hatten, sie schon längst gewonnen zu haben. Wir reihen uns ein in den Protest gegen christliche FundamentalistInnen und RechtspopulistInnen, die Abtreibungen ganz verbieten wollen, Homosexualität für widernatürlich erklären und zur patriarchalen Kleinfamilie mit traditioneller Rollenaufteilung zurückkehren wollen.

Waren wir nicht schon einmal viel weiter? Jetzt müssen wir dafür kämpfen, dass das Erreichte nicht zurückgedreht wird.

 

Zum Weiterlesen: Gisela Notz: »50 Jahre 1968. Warum flog die Tomate?«, aktualisierte und erweiterte Neuauflage, AG SPAK Bücher, 77 Seiten, 10 €. Gisela Notz: »Feminismus«, 2. erweiterte und aktualisierte Auflage, PapyRossa, 131 Seiten, 9,90 €