Der Sinn und die Sinne, denkt Ruth, fragt sich, ob nicht auch der Gerechtigkeitssinn zu den menschlichen Sinnen gehört, und schon seit langem rätselt sie darüber, was Goethe meinte, wenn er sagte: »Ich bin aus der Wahrheit der fünf Sinne.« Die These, abgeschrieben bei Käthe Kollwitz, hängt zu Haus bei ihr am Schwarzen Brett.
»Vielleicht wollte ich nur sagen, Männer drücken mit dem Ausdruck ›sinnliche Frau‹ der so Genannten einen Stempel auf: ›Die ist leicht zu haben, die ist mannstoll‹«, bremst Lizzy.
»Ist das noch so?« wundert sich Ruth. »Stirbt das Problem nicht langsam aus? Spätestens seit 1968 haben wir doch massiv begonnen, die verlogene Sexualmoral in Frage zu stellen, die Männern mehr erlaubte als Frauen. Durch die Pille wurden wir frei von der Angst. Es gab einen kurzen paradiesischen Moment …«
»Da wäre ich aber gern dabei gewesen«, kontert Lizzy. »Du meinst doch nicht etwa die ›Sex-Pol-Schulungen‹, die Sexualität und Politik in Verbindung brachten …«
»Für mich wurde Geschlechtlichkeit aus einer dumpfen, sündigen Sperrzone herausgeholt«, verteidigt Ruth ihre Ansicht. »Als Achtzehnjährige hatte ich Mühe zu lernen, dass das Prickelnde nicht vom Verbot herrührt.« Die Erinnerung stimmt sie übermütig. »Ich habe mich durchgewaschen zur Lust. Sonntagmorgens unter der Dusche in meinem Elternhaus. Erst wurde ich von der Kluft zwischen der Moral dort und meinem Gefühl fast zerrissen. Ich sah meinen Körper im Spiegel und fand ihn schön, so schön wie meine Verliebtheit und wusste, meine Wahrheit stimmte und ihre Wahrheit stimmte für mich nicht. Sie war überholt. Ich habe die Glaubenssätze meiner Eltern abgeschrubbt«, sagt sie und vertraut Lizzy an: »Seltsamerweise muss ich manchmal an dies Ritual denken, wenn ich in dem Lied ›Oh Happy Day‹ die Zeile höre ›when Jesus washed, oh when he washed – all the sins away‹. Sünde ist ja Trennung, liebste Lizzy. Ich habe damals aus der mir aufgedrängten Moral zu mir zurückgefunden. Und natürlich hat die Stimmung ›make love not war‹ dabei geholfen.« Ruth wird bewusst, was sie eigentlich hat sagen wollen: »Negativ über sinnliche Frauen zu sprechen, gehört in eine andere Epoche, da bin ich ganz sicher.«
»Du bist eine Träumerin«, widerspricht Lizzy. »Nur Wörter haben sich geändert. Heute nennt man Frauen, die ihre Lust leben ›Schlampen‹. Mann schätzt noch immer die Sittsamen, die ›warten können‹ und verachtet die Abenteurerinnen.«
»Aber wenn die Sittsamen genug gewartet haben, dürfen sie immerhin schon sinnlich sein«, gibt Ruth lachend zu bedenken. »Erinnerst du dich an die Visionen der Alexandra Kollontai? Sie begriff Liebe und Sexualität als menschliche Produktivkräfte. Freie auf gegenseitiger Anerkennung gründende Beziehungen sollten Solidarität stiften und die Basis einer sozialistischen Gesellschaft bilden. ›Geflügelter Eros‹ nannte sie das. In Doris Lessings Roman ›Die Ehen zwischen den Zonen 3, 4 und 5‹ habe ich das wiedergefunden. Jede legt sich in der kulturell hochstehenden Zone Drei zu jedem, der ihr gefällt. Kinder haben in dieser freundlichen Gesellschaft, in der es weder Ausbeutung noch Krieg gibt, einen so genannten Genvater und mehrere geistige Väter.« Ruth zündet sich ein Zigarillo an und schränkt ein: »Die Frage ist, ob Menschen wie etwa Delfine ohne Eifersucht mit einem so herumschwirrenden Eros leben können, oder ob Besitzdenken, Eifersucht und Imponiergehabe unser Verhalten bestimmen. Auf jeden Fall lohnt es sich, einen anderen, besseren Umgang vorauszuträumen …«
»Und sei es durch Kritik«, meint Lizzy trocken. »In der Tat haben mich meist erst andere Frauen ermutigt, meiner Wahrnehmung zu trauen. Ich weiß noch, wie mir ein Licht aufging, als ich Irmtraud Morgner las. Am Anfang eines Romans beschreibt sie eine wiedergeborene Troubadoura, die sich von einem Schneider ›wie von einer Nähmaschine gefickt‹ fühlt. Ich musste laut lachen. Jede Frau versteht, was gemeint ist.« Die Packung mit den Zigarillos ist leergeraucht. Sie knüllt sie mit einer Geste zusammen, die wieder Mutlosigkeit ausdrückt. »Und gerade diesen Nähmaschinen bin ich hinterhergelaufen. Wollte sie in die hohe Kunst der ganzheitlichen Liebe einweihen.«
Ihr Gesicht spiegelt nur noch Müdigkeit. Das Aufbäumen gegen alles, was man ihr angetan hat, scheint umgeschlagen zu sein in Resignation. »Neben der Nähmaschine gibt es auch den Techniker«, sinniert sie, »der seine ›Nadel‹ einölt mit Ylang Ylang und ein Sortiment von künstlerisch gestalteten Parisern bereithält, der den Whirlpool anschmeißt. Homo Faber. Krank, beziehungsunfähig. Solche Typen berufen sich auf 68, auf sexuelle Befreiung. Das geht mir jetzt erst auf, weil du so positiv darüber sprichst. Ich bin damit oft nur unter Druck gesetzt worden. Ob ich zu prüde für Analverkehr wäre, so in diesem Stil. Ich hab mal einen gefragt, ob sexuelle Befreiung die Befreiung der Sexualität von der Liebe wäre. Hat der gar nicht begriffen.«
Betroffen schweigt Ruth, und Lizzy fährt fast abgeklärt fort: »Falls es mal so etwas wie Emanzipation auf dem Gebiet gab, läuft schon lange ein gigantisches Rollback, weltweit …«
Aus: Renate Schoof »Blauer Oktober«, Roman, VAT-Verlag André Thiele, Mainz 2012, hier leicht bearbeitet.