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Titel1218

Kalte Zeiten. Erinnerung an Christian Geissler  (Klaus Pankow)

»Unsere Gefängnisse liegen in den schönsten Landschaften.« Das sagt Christiane Ensslin auf der Autofahrt nach Stammheim. Dort will sie ihre Schwester Gudrun im Hochsicherheitstrakt besuchen. Margarethe von Trottas Film »Die bleierne Zeit« (1982) zeichnet Genauigkeit der Analyse und Empathie des Hinsehens aus. Genauigkeit und Empathie sind auch die Merkmale des schriftstellerischen Werkes von Christian Geissler (k) (1928–2008), das über viele Jahre hinweg vergessen schien. Zum Mainstream des Literaturbetriebs gehörte Geissler, der seinem Namen das »k« hinzufügte (»k« wie Kommunist), zu keiner Zeit.

 

Einige Daten seiner Biografie: Geboren in Hamburg, Flakhelfer im Zweiten Weltkrieg, Lehrling und Landarbeiter, Theologiestudium in Tübingen und Übertritt zum Katholizismus, Rundfunk- und Zeitschriftenredakteur, Aktivist der Ostermarschbewegung, Austritt aus der katholischen Kirche, 1967 Eintritt in die illegale KPD, 1965 Mitbegründer der Zeitschrift »für Literatur, Kritik, Klassenkampf« kürbiskern. Christian Geissler war ein kompromissloser Mann; Eintritte, Austritte, Übertritte ... Das mag kurios finden, wer will. Ich will es nicht. Politisch vertrat er zu jeder Zeit, und seit Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts verstärkt, die These von der Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes weltweit, auch in Deutschland. Seine praktische Solidarität mit den Gefangenen der RAF hielt er bis zu seinem Tod aufrecht. Für ihn galt das Wort Franz Josef Degenhardts, dass nur »Lumpen die Fahne verlassen, wenn es ans Verlieren geht«.

 

Seine Härte gründete auf seinen Erfahrungen in der Nazidiktatur und im Nachkriegsdeutschland Konrad Adenauers. Christian Geisslers Buch »Kalte Zeiten« erschien 1965. Erzählt wird die Geschichte von Ahlers, Baggerführer aus Hamburg-Wilhelmsburg. Das kleine Glück der frühen Sechziger, gab es das wirklich? »Er wollte noch etwas sagen, aber er konnte nicht reden, war stumm, als läge er da, Steine auf seinem Mund. Wo kann man hier raus. Er sah zur Tür, er hätte sie öffnen können. Er sah das Fenster, das Fenster war nicht vergittert. Ums Haus keine Mauer gezogen. Keinen Aufpasser gab es, keine Kontrollen, keine Strafe. Verdammt, wo kann man hier raus. Aber nicht einmal das, kein Ton. Ihn fror. Sonst nichts.« So endet der Text, der kalt und klar strukturiert ist. Als Motto wählte Christian Geissler neben einem Satz aus Peter Weiss‘ »Marat« (»Glaubt ihnen nicht, wenn sie euch freundschaftlich auf die Schulter klopfen«) die Schluss-Sätze aus Georg Büchners »Lenz«.

 

Am 5. Juni 1967, drei Tage nach dem Mord an Benno Ohnesorg während des Polizeistaatsbesuchs in Westberlin, hielt Geissler vor Studenten in München eine Rede. Er sprach von der Angst und sagte: »Aber wir machen einen Fehler, wenn wir uns in diese Kälte und in diese Feindschaft hineinziehen lassen. Wir würden auf diesem Wege verlieren, was wir haben. Wir haben die vernünftige, gerechte Sache auf unserer Seite und haben also, meine ich, Anlass, mit Vergnügen und mit Entschlossenheit für dieses Land hier zu kämpfen, für die Entwicklung einer demokratischen Ordnung ... Dieses System muss geändert werden. Und es wird auch geändert werden. Denn dies hier ist unser Land!«

 

1976 erscheint im Rotbuch Verlag der große Roman »Wird Zeit, daß wir leben. Geschichte einer exemplarischen Aktion«. Einem authentischen Fall nachspürend, beschreibt Christian Geissler die Geschichte eines »Schließers, der aufschließt«, eines Justizwachtmeisters, der sich 1933 gemeinsam mit anderen bewaffnet zur Wehr setzt. Hier findet und entwickelt Geissler eine leidenschaftliche, atemlose Sprache, die sein literarisches Werk tragen wird und in den vielen gelungenen Passagen Georg Büchners »Lenz« und dem »Hessischen Landboten« nahe kommt. Detlef Grumbach hat 2013 im Verbrecher Verlag den Roman mit einem erhellenden Nachwort neu herausgegeben und 2017 den Tagungsband »Der Radikale« ediert.

 

Der letztlich erfolglose Dialog um Gewalt und Gegengewalt, um die Legitimation der RAF, wird in »Kamalatta« (1988) und »Prozeß im Bruch« (1992) intensiv geführt: »wir könnten das unterbrechen. wir werden das unterbrechen. es geht ums leben. es geht gegens lügen. im bruch, springen wir ab, brechen wir aus, machen uns unsichtbar, sehen uns an: sehen das neue gesicht, das noch niemand kennt. sehen die unterbrechung, den anbruch, den aufbruch, endlich den ausbruch.«