Aufmunternd, einschränkend prognostizierte 1964 Volker Braun: »Daß das Feuer zur Flamme aufsprüh, bedarf es des Windes./ Und auch ihr werdet für die Befreiung der Menschheit schreiben/ und für ihre Qual:/ Weil sie nur vorläufig ist, werdet ihr Vorläufige sein.« Nachdenkend über »Wir und ihr« schlussfolgerte Volker Braun 1970: »[…] erwartet nicht/ Daß wir warten.« Als uns 1990 die Gegenwart in die Vergangenheit zurückriss, galt nur der herrschende Standpunkt aus dem Westen. Die Zukunftsentwürfe der DDR gingen verloren. Ausführlich ausgebreitet wurde die Geschichte der »68er-Generation« als westdeutsche Bewegung. Folglich muckte der Osten auf: »Das hatten wir auch!«
Der Protest der »68er« war global. Als Gemeinsamkeiten könnten gelten: antiautoritär, mit kritischer Theorie voll visionärer Phantasie und mit friedliebender Hoffnung auf eine Zukunft in einer sozial gerechten Welt. Aber zur eigenen Bilanz dieser Zeit gehört nicht nur das Ebenfalls, sondern das Gleiche in seiner Andersartigkeit. Wegen der Unerfülltheit der Ziele gehört zu den Ideen für die Zukunft, was der Niederländer Dick Boer von der DDR, die er kannte, bewahren möchte: »[…] die Kultur und Literatur, die Musik und die Kinderhymne von Bert Brecht und Hanns Eisler […], die Bücher und Stücke der großartigen Anna Seghers, des kreativen Unzufriedenen Volker Braun und des illusionslosen Kommunisten Heiner Müller. Diese DDR verkörperte eine Sehnsucht. Sie war für mich ein interessantes Experiment, eine egalitäre Gesellschaft zu errichten.« (nd 22.5.2018)
Voran gingen die kreativen Unzufriedenen und illusionslosen Kommunisten. In der Kunst wiesen sie den normativen deskriptiven und vorbildsetzenden »sozialistischen Realismus« zurück, während im Westen in gewisser Analogie der Gegenstand in der Kunst gegen die Diktatur der Abstraktion wiederkehrte. Protagonisten, wie Wolfgang Mattheuer, Bernhard Heisig oder Ronald Paris (am 12. August: 85), die mit Nationalpreisen geehrt wurden, haben ab 1965 bis 1978 in der DDR einen künstlerischen Anspruch entwickelt und einen Paradigmenwechsel in der Kunst durchgesetzt. Mit einer kritisch reflektierenden Kunst erreichten die Künstler in einzigartiger Weise die Rezipienten und verstanden es, ein Massenpublikum ästhetisch-geistig zu mobilisieren, so dass Hoffnung bestand, sie hätten der kritischen Gedankenmasse in der Gesellschaft zum Durchbruch verhelfen können – zu einem wirklichen Paradigmenwechsel in einer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft, in einer wirklichen Vergesellschaftung der Produktion, in Freiheit der Meinung und des Reisens. Intentionen, wie sie Rudolf Bahro in seinem Buch »Die Alternative« 1977 begründete.
Während in Westdeutschland die vom Wirtschaftswunder getragenen 68er dieses hinterfragten, kritisierten Künstler in der DDR, wie Uwe Pfeifer, wachsendes Konsumdenken, sozialistisches Spießertum und Verantwortungslosigkeit gegenüber der natürlichen Umwelt.
Die westdeutschen 68er waren revoltierende Bürgerkinder, die der Vätergeneration ihre faschistische Vergangenheit und den bleibenden Nazismus vorwarfen. Dagegen sah zwar die junge Ost-Generation »auf den Thronen/ Unsre Leuten [sitzen]«, doch »viele von uns/ Nur weil sie nichts zu melden hatten/ Halten noch immer den Mund versteckt/ Wie ein Schamteil«! (Volker Braun »Fragen eines Arbeiters während der Revolution«). Der Lyriker Karl Mickel forderte: »Da kommt es auf alle an/ Und auf den einen« (»Flugplatzlied«).
Dem borniert gegängelten Volk überließ die Diktatur der »Arbeiterklasse«, verengt zur SED (ZK [Politbüro{Honecker}]), keine wirkliche Selbstbestimmtheit und Macht, wollte allein Vertrauen. Mit der Forderung nach Wahrhaftigkeit, auch an höheren Funktionären innere Widersprüche und Fehlbarkeit aufzudecken, erregte Ronald Paris auf der VII. Kunstausstellung der DDR mit dem Gemälde »Ernst Busch« Streit. Ebenso thematisierte Ronald Paris im Sinnbild der Schindung des Marsyas den Missbrauch der Macht an Wolf Biermann. Der hielt den alten Genossen entgegen: »Die Gegenwart, euch/ Süßes Ziel all jener bittren Jahre/ Ist mir der bittre Anfang nur, schreit/ Nach Veränderung«. Und im Kölner November 1976 sang er: »Viele werden dafür sorgen,/ Daß der Sozialismus siegt/ Heute! Heute, nicht erst morgen!/ Freiheit kommt nie verfrüht/ Und das beste Mittel gegen/ Sozialismus (sag ich laut)/ Ist, daß ihr den Sozialismus/ AUFBAUT!!! Aufbaut! (aufbaut)/ Wartet nicht auf beßre Zeiten«.