Der Prager Frühling stand schon während seines Ausbruchs, erst recht aber in der westlichen Geschichtsschreibung, zu Unrecht im Schatten der West-68er. In deren globaler Hörsaalrevolte ging es um Details, sicher wichtige, aber nicht wie in Prag um einen ganz neuen Gesellschaftsentwurf, der für alle interessant sein könnte. So stellte es sich zumindest aus der Sicht der Abiturientin dar, die ich damals war.
Selbst die sonst nicht für Beweglichkeit bekannte DDR erfasste, seit 1963 Walter Ulbricht Diskussionen zu seinem Neuen Ökonomischen System (NÖS) zugelassen hatte, eine gewisse Aufbruchsstimmung. Man dachte öffentlich nach über den Unterschied zwischen Verstaatlichung und Vergesellschaftung, über mehr Selbständigkeit der Betriebe. Noch war niemand alarmiert, wenn ein wohlwollender Kommentar von Ota Šik zum NÖS veröffentlicht wurde.
Mit dem Sturz von Chruschtschow 1964 setzte ein Rückschlag ein. Der neue KPdSU-Generalsekretär Breschnew hielt nichts davon, das NÖS auch im osteuropäischen Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) einzuführen. Es wäre ein Eingriff am offenen Herzen des Organismus Volkswirtschaft gewesen. Es war eine hochpolitisierte Zeit. Die aufgekommene Konvergenztheorie wurde zwar abgelehnt, aber ihre Grundannahme, beide Seiten würden sich durch den wissenschaftlichen Fortschritt annähern und könnten ihre jeweiligen Vorteile in etwas Gemeinsames einbringen, war für den Ostblock auch schmeichelhaft. Damals experimentierte man in Frankreich mit Planification und in Japan mit MITI, lauter sich auf Keynes beziehende Modelle zwischen Markt und Plan. Ein Wandel schien unaufhaltsam. Im Januar 1968 wurde in Ungarn eine Wirtschaftsreform verkündet.
Anfangs unterstützten Ulbrichts NÖS-Leute noch Dubčeks Offensive, auch der polnische Parteichef Gomulka, der sich selbst glücklos mit Wirtschaftsreformen versuchte. Sogar die Sowjetunion ließ die Genossen in Prag für kurze Zeit gewähren. Über die eilig zusammengerufene Konferenz der Parteiführer in Dresden veröffentlichte das Neue Deutschland im März ein Interview mit Dubček: »Man braucht sich nicht zu wundern, dass sich auf der Beratung eine bestimmte Besorgnis darüber zeigte, dass antisozialistische Elemente den Demokratisierungsprozess missbrauchen könnten. Alle unsere Freunde wünschten uns, dass unser Werk gelingt, und versicherten, dass sie voll hinter uns stehen.«
Anfang April zitierte die Zeitung unkommentiert längere Passagen aus der Rede Dubčeks vor dem ZK-Plenum der KPČ. Es sei »dringend notwendig, die sozialistische Demokratie zu vertiefen«. Wir werden »Unrecht und Fehler der Vergangenheit beseitigen und wieder gutmachen«. Am 10. April wurde in Prag das Aktionsprogramm der KPČ veröffentlicht, das weitgehend mit den Forderungen der intellektuellen Opposition übereinstimmte. Es enthielt präzise Reformvorgaben für die Arbeit des Parlaments, der Parteien, der Presse, der Wirtschaft und der Außenpolitik. Über allem stand das Ziel demokratischer Freiheiten. Wolfgang Leonhard, der sich frühzeitig von der Gruppe Ulbricht gelöst hatte, schwärmte später: »Ich würde nicht zögern, das tschechoslowakische Reformprogramm von 1968 neben dem Kommunistischen Manifest von 1848 und dem Erfurter Programm von 1891 zu den bedeutendsten programmatischen Dokumenten des Sozialismus zu zählen.« (ND 28.2.1996)
Die Euphorie dieser Wochen griff auch in der DDR auf alle selbständig Denkenden über, die lange auf diesen Moment gewartet hatten. Viele junge Leute wurden aktiv. An meiner Schule ließ eine Gruppe politisch interessierter Schüler das Abitur schleifen, wir fertigten stattdessen heimlich eine überdimensionierte Wandzeitung mit Zitaten von Dubček und späteren Eurokommunisten, unterzeichneten mit unseren Namen und riefen zur Diskussion. Umringt von einer großen Traube von Mitschülern, hing unser Pamphlet nur eine Pause, dann ließ der Direktor es abnehmen. Besonders gestört hatte ihn das Zitat von Ernst Fischer, einem der eigenwilligsten Vertreter des internationalen Kommunismus: »Wir brauchen eine Opposition innerhalb der Partei.« Wie gespalten die Meinungen auch im Bildungswesen waren, erlebten wir dadurch, dass unsere Gruppe erst für das Abitur gesperrt wurde, schließlich doch wieder zugelassen. Da wir nun unvorbereitet waren, schikanierte uns ein Teil der Lehrer, der andere verriet uns heimlich die Prüfungsthemen. Mit unseren Abschlussnoten konnten wir recht zufrieden sein …
Die sowieso angespannte Stimmung kippte, als im Juni in Prag das von Literaten verfasste Manifest der 2000 Worte veröffentlicht wurde. Es übte heftige Kritik an den »Irrtümern des Sozialismus« und rief zu Unruhen, Streiks und Boykott auf. Reformer wie Ota Šik waren zwar inhaltlich weitgehend einverstanden, verurteilten das Manifest mit seiner Wortwahl und dem Zeitpunkt der Veröffentlichung aber als taktisch verunglückt, weil es radikalisiere und damit den Reaktionären in die Hände spiele. Dubček lavierte, während ein hoher General erstmalig von Konterrevolution sprach. Was die Moskauer Prawda alarmiert aufgriff. Die Sowjetunion würde die Angelegenheit nun nicht mehr unter dem Blickwinkel der Souveränität, sondern der gemeinsamen Abwehr des Imperialismus betrachten.
Von nun an hielten alle Sympathisanten des Prager Frühlings die Luft an. Den Begriff Regime Change gab es noch nicht, aber es war zu befürchten, dass man diese unterstellte Gefahr zum Einmarsch in die größte Hoffnung missbrauchen konnte. Als Kronzeuge für die Abtrünnigkeit der Genossen taugte ausgerechnet Willy Brandt, der befand, die Bestrebungen der Prager Reformer würden die gleichen Ziele verfolgen, wie die westdeutsche Sozialdemokratie. Und Bruno Kreisky, der wissen wollte, die ČSSR habe aufgehört, ein kommunistischer Staat zu sein. Im August griff der Warschauer Pakt zum schlechtesten aller Argumente: Panzer. Dass Breschnew die Nationale Volksarmee nicht mit einmarschieren ließ, weil es noch nicht so lange her war, dass deutsche Uniformen in Prag äußerst unbeliebt waren, bekamen wir zunächst gar nicht mit. Und es war auch wenig tröstlich. In meinem Umkreis galt der Kodex, dass man mit niemandem befreundet sein könne, der den Einmarsch, diesen eigentlichen konterrevolutionären Akt, befürwortete.
Im Neuen Deutschland wurde im September ganzseitig »Die untaugliche Konzeption Ota Šiks« besprochen. Besonders argwöhnisch wurde bewertet, dass seine autonomen Betriebe selbst über Kreditaufnahme und Kapitalverflechtungen mit kapitalistischen Konzernen entscheiden sollten und der Handel mit Westeuropa auf Kosten des sozialistischen Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) gesteigert werden sollte. »Šiks Konzeption ist objektiv gesehen ein Stufenprogramm zur Herauslösung der ČSSR-Wirtschaft aus dem sozialistischen Lager.« Zitiert wurden westdeutsche Zeitungen, die über die Ablösung von Planwirtschaftsideologen frohlockten. »Die Völker, die diese Doktrinäre abschütteln, brauchen eine mit Westdevisen gepolsterte Hand«, wusste Christ und Welt. Damals war das für uns kein Grund zu Beunruhigung. Nach den Erfahrungen der Wende kann man solche Töne nicht mehr arglos hinnehmen.
1990 bereitete mir auch die Lektüre eines Interviews mit Ota Šik in der Mlada Fronta vom 2. August eine echte Überraschung. Dort bekannte er: »Wir, der Kern der ökonomischen Reformer, versuchten in Prag damals eben nicht, den Kommunismus zu reformieren. Unser eigentliches Ziel war, ihn abzuschaffen und ein neues System aufzubauen … Der Begriff der Reform war ein Zugeständnis an die Machtverhältnisse.« Auf die Rückfrage, wie es dann käme, dass der Name Ota Šik weltweit mit der Theorie des Dritten Weges verbunden sei, stellte er klar: »Unter dem Dritten Weg wurde für ein Mischsystem zwischen Planwirtschaft und Marktwirtschaft geworben. So etwas kann nicht funktionieren.« Der Dritte Weg sei ein Täuschungsmanöver gewesen. Er sei schon damals davon überzeugt gewesen, dass »die einzige Lösung für uns ein vollblütiger Markt kapitalistischer Art ist«. Irgendein Bedenken gegenüber dem »vollblütigen« Kapitalismus kam nicht mehr vor. Hatten wir vollblütigen Anhänger des Prager Frühlings uns tatsächlich täuschen lassen? Oder war selbst ein Ota Šik, wie so viele damals, zum Wendehals geworden?
Diese Annahme wurde noch wahrscheinlicher, als es mir etwas später vergönnt war, mit Eduard Goldstücker ausführliche Gespräche zu führen. »Der Prager Frühling war zwischen 1945 und 1989 der einzige lichte Moment im Schicksal meines Volkes«, verteidigte sich der Standhafte. Das System des Diktates hätte in ein Partizipationssystem umgewandelt werden sollen – die Betriebe sollten volkseigen bleiben. Man habe nicht in überholte, kapitalistische Strukturen zurückfallen wollen. Ob diese Absicht allerdings durchzuhalten gewesen wäre, hätte niemand ganz sicher sein können, er auch nicht. Nach 1989 sei dieser Demokratieversuch im Lande diskreditiert worden, weil er von Reformkommunisten und Intellektuellen gekommen ist. Jetzt ginge es um neue Hegemonien, die Antikommunismus voraussetzen.
Sind wir nach 50 Jahren über die Erfolgsaussichten eines Dritten Weges schlauer geworden? Vielleicht sind es weniger Markt und Plan, die sich ausschließen, als die Logik privatwirtschaftlicher Profitmaximierung und die dem Gemeinwohl verpflichtete Denkweise. Wer in Šiks auch heute noch anregendem Konzept einer humanen Wirtschaftsdemokratie nachliest, stößt auf interessante Vorschläge: Mitarbeitergesellschaften, antimonopolistische Marktregulierung und von Volksentscheiden bestimmte Verteilungspläne. Damit ließe sich dem Gemeinwohl noch immer näher kommen.