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Titel1218

Thälmann und Unkraut  (Heidrun Jänchen)

1968 war ich drei Jahre alt. Im Dorf, in dem sonst nie etwas passierte, geschah etwas Unerhörtes. Nicht die Installation der Straßenbeleuchtung. Die kam später. 1968 baute man eine Ernst-Thälmann-Gedenkstätte.

 

Neben dem Dorfkonsum hatte man eine Fläche planiert, und eine Schar Männer, unter anderem mein Vater, schaufelten Löcher. In die pflanzte man die unvermeidlichen Gedenkstättenbäume der DDR: Blaufichten und Lebensbäume – und eine Hainbuchenhecke rundherum. Ein Gedenkstein aus dem dörflichen Steinbruch wurde in der Ecke aufgerichtet. Er trug ein bronzenes Thälmann-Porträt, Name, Geburts- und Sterbedatum.

 

Später kamen ein Rasenstreifen und ein Beet mit Stiefmütterchen. Es gab hölzerne Bänke. Auf denen saßen bei schönem Wetter die Rentnerinnen und Rentner nach ihrem Einkauf und tratschten, und zu tratschen gab es immer etwas.

 

In den Siebzigern zogen wir nach der Schule in die Thälmann-Gedenkstätte, denn einen Spielplatz gab es nicht im Dorf. Wir spielten Gummihopse, Lange Nase oder – obwohl man uns vehement zur Friedensliebe erzog – Ländermausen. Das war politisch inkorrekt, aber diesen Ausdruck gab es damals noch nicht. Wir wählten exotische Länder, die wir aus dem Fernsehen kannten. Keiner wollte DDR oder Sowjetunion sein. Thälmann störte uns nicht, und wir störten ihn nicht. Noch später sahen wir uns verpflichtet, freiwillig Unkraut zwischen den Stiefmütterchen und auf der Splittfläche zu jäten. Aus dieser Zeit ist mir eine tiefe Abscheu gegen Leute geblieben, die Abfall in Grünanlagen werfen. Mit dem Unkraut hat man schließlich genug zu tun.

 

Nach der deutschen Vereinigung kam das Jäten außer Mode. Man machte aus der Thälmann-Gedenkstätte einen Spielplatz – für Kinder unter zwölf. Die Größeren hängen illegal da herum. Der Dorfkonsum verschwand und mit ihm ein Großteil der Rentner. Man kauft jetzt in der Nachbarstadt ein und tratscht zwischen den Regalen des Supermarktes. Das ist nicht so gemütlich, aber Gemütlichkeit rechnet sich nicht.

 

Thälmanns Porträt hängt noch immer an dem Stein in der Ecke, aber Name und Lebensdaten sind verschwunden, und nur die Alten wissen noch, wer das war. Die glauben nach wie vor, dass Ländermausen ein Kinderspiel ist, das mit Stöckchen gespielt wird, und in der Welt der Erwachsenen nichts verloren hat.