Um das vorauszuschicken: Dieser Text ist nicht pflegeleicht und zum schnellen Überfliegen und Weglegen gefertigt. Das behandelte, bereits mehrmals gewendete Sujet weist inzwischen einige Verbrauchsspuren auf. Nach Jahrzehnten einer im Nachsehen eher weniger als mehr vollzogenen Wiedervereinigung wissen wir nun vieles genauer. Das damit verbundene Überlegens-Training hat die Erkenntnis gefördert, dass es in der angeblich grenzenlosen Freiheit Grenzen zu respektieren gilt. Grundgesetz her, Schengen hin: An sich halten, tief Luft holen und ganz bedachtsam verbal ausatmen, ist inzwischen angebracht.
So präpariert, nähere ich mich kühlen Blickes einem heißen Eisen: Den 68ern. Unantastbares Heiligtum für die einen. Unversöhnbares Hassprojekt für die anderen. Da es neuerdings ja immer auch Dritte gibt: Denen ist das Ganze schnurzegal, weil viel zu lange her. Zu welcher Gruppe soll ich mich schlagen? Nebbich, zu gar keiner. Weil das mich nicht betraf – seinerzeit exterritorial fünf Kilometer jenseits vom Hauptschauplatz siedelnd. Der Geltungsbereich des Grundgesetzes wurde erst zweiundzwanzig Jahre später auf mich ausgedehnt. Und in dessen geografisch fixiertem Rahmen vollzog sich ab 1967 die Revolte.
Da ist alles geregelt. Die Außenstehenden dürfen Zaungäste spielen und das Spektakel bestaunen. »Vergangenheitsbewältigung« heißt das. Wie »Geltungsbereich« echtes Edel-Deutsch. Seitdem gibt es mit »Beitrittsgebiet« und »Migrationshintergrund« zusätzliche Politvokabeln. Die poetische Anreicherung der deutschen Sprache in jenem (inzwischen für mich diesem) Land wird offenbar von der Bürokratie besorgt. Und zwar erfolgreich, weil bindend. Die 68er (falls sie noch nennenswert lebendig sind) bleiben nach wie vor unter sich. Offenbar hatten sie auf der anderen Seite (der unsrigen) keine nennenswerten Verbündeten. Wären wir denn welche gewesen? Bedingt. Zu wenig. Unbedingt war gefragt.
Nun weiß ich aus eigener Erfahrung: Wer einmal als kleine Minderheit wesentlich für etwas gewesen ist, wird grundsätzlich heruntergestuft. Überall. 68er, das ist inzwischen eine Marke. Wer ihr nicht entspricht, hat keine Chance. Der gelegentlich auch mal Recht habende David Richard Precht bescheinigt den 68ern totale politische Erfolglosigkeit – was dagegen die ausgelöste gesellschaftliche Kettenreaktion betrifft, einen beispiellosen Triumph. Ja, und dreimal ja. Warum jedoch ihnen allein? Den Müll der Adenauerzeit entsorgt, ja. Den Nazi-Bambi-Schappi-Mief weggewirbelt, ja. Die überkommene Kleiderordnung so über den Haufen geworfen, dass der menschliche Körper und Geist davon befreit war, ja.
Aber wieso nur dort? Ist der sogenannte Geltungsbereich die alleinige Domäne dafür? Die überzogene Selbstgewissheit (um eine gewisse Arroganz mal schonend zu benennen) des Musterbildes Bundesbürger wirkt in der linken Ausprägung nicht sympathischer als auf der anderen Seite. Dogmatischer Verkrustung haben sich anderswo andere ebenfalls entledigt. Zumindest teilweise. Eine Generation energiegeladener, vielfältig motivierter junger Leute widersprach quer über Länderzäune und Systemmauern hinweg. Die letzte quergedacht linke Revolte der jüngeren Geschichte fand quer rüber statt. So oder so.
Da muss man nicht ausschließlich den Prager Frühling, Alexander Dubček, Ota Šik und all die anderen bemühen. Es zählt, wer immer Gewesenes in Frage stellte und Neues wagte. Eruptionen der Repression hinterlassen eben nicht nur Depression. Im Umkreis der Prager Ereignisse und völlig unabhängig davon geriet ein ganzes Gefüge festgezurrter Sozialismus-Gewissheiten ins Wanken. Deutschland Ost war weder dabei noch anderweitig ein Anhängsel.
Alles, was mit Jugend zu tun hatte, war in Bewegung und Veränderung. Oft leise. Aber beharrlich. Jungdichter, Rockmusiker, Bildkünstler, Filmemacher eckten an. Ja. Aber sie hatten Wirkung. Lebensgefühl veränderte sich. Lehre und Theorien hinkten mühsam hinterher. Das Für von unten und das Wider von oben. Immer im Widerspruch. Die von den Inhabern der heutigen Deutungshoheit vorgegebenen Erklärungsmuster werden das nie erfassen. Sie fixieren Ereignisse und kapieren nicht einen einzigen Prozess.
Denn die Geschichtsschreiber vom Dienst hängen die von ihnen gründlich durchgewaschene historische Substanz des Landes östlich der Elbe auf der Wäscheleine auf. Die hat vier fest eingerammte Pfosten: 17. Juni. 13. August. 11. Plenum. Biermann-Affäre. Basta. Periodisierung der Geschichte nennt man das. Der erste Termin schlug den Aufstand nieder, der zweite rammelte die Grenze zu, der dritte machte die Kunst kalt, und nach dem vierten begann die Agonie. Finis Eastern Germany.
Und die offizielle Lieblingsversion eines Geschichtsbildes für die Westseite sagt analog dazu über die 68er: Schah kommt und geht. Ohnesorg geht tot. Studierende machen Krawall. Unter Talaren Staub gewischt. Kommune. Alle schlafen miteinander. Kinder eingeschlossen. Die zu Arbeitnehmern beförderten Arbeiter lesen Bild. Und glauben: Kommune muss Scheiße sein. Rudi Dutschke redet nur. Baader und Meinhof schießen. Vater Staat muss ganz böse werden. Greift ein und durch. Stamm heim ins Reich.
Da stutzt unsereins. Und fragt: Meint ihr allen Ernstes, das war‘s?