Die Stimmen krächzen und die Worte höhnen –
verließ das Haus und schloß die Reverie.
(Gottfried Benn)
Sicherlich, sie tanzte nur einen Sommer. Bis zur Kür kam die Parteivorsitzende nicht.
Aber es war doch kein Solotanz, wie die allgemeine Fokussierung auf ihre Person nahezulegen scheint. Sie hatte doch Mittänzerinnen und -tänzer, dort auf dem glatten Parkett des Willy-Brandt-Hauses in Berlin. Dort, wo seit seiner Einweihung im Mai 1996 so mancher Parteivorsitzende ausrutschte oder gemeuchelt wurde, manchmal auch mit ihrer Beihilfe.
Zehn Frauen und Männer bildeten gemeinsam mit ihr die Parteispitze, zusammen mit sechs weiteren Beisitzerinnen und Beisitzern ergaben sie das Parteipräsidium, und 35 Genossinnen und Genossen standen dem Gremium als Parteivorstand – zur Seite? Oder hinter ihm? Oder neben ihm? Alles in allem knapp über 50 Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.
Sicherlich, sie war die Parteivorsitzende, seit Frühjahr 2018. Aber vor ihr, neben ihr, hinter ihr saßen in den Sitzungen und Beratungen Personen mit landesweit bekannten Namen und regelmäßiger Medienpräsenz: Dreyer, Schäfer-Gümbel, Schwesig – neuerdings auch als kommissarische Parteiführung »Die drei Musketiere« der SPD genannt nach ihrem selbst verkündeten Wahlspruch bei ihrer Vorstellung: Einer für alle, alle für einen. Weiter in der Aufzählung: Scholz, Stegner, Heil, Schulze, Ueckermann, Müller, Tschentscher, Weil … Und sie alle ließen sich von ihr kujonieren? Stimmten gegen ihre eigene Überzeugung für die vorgeschlagenen Positionen, Schritte, Vorlagen und (Wahlkampf-)Planungen?
Sicherlich, es gibt seit eineinhalb Jahren auch einen Generalsekretär. Er machte aber bisher seinem Namen keine Ehre, blieb blass. Klingbeil mangelt es halt in mancher Auseinandersetzung an wohltuender, trennender Schärfe. Und auch an theoretischer Tiefe, die der Partei neue Impulse hätte geben und wieder zu früherer Kampagnenfähigkeit hätte führen können. Peter Glotz lässt grüßen, vor Zeiten Bundesgeschäftsführer, aber der war ja von Haus aus auch Kommunikationswissenschaftler.
Apropos Kommunikation: Angeblich gibt es in der Parteizentrale auch eine Stelle für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.
Im Januar las ich eine Statistik: 2018 saßen in Talkrunden (Will, Illner, Hart aber fair) 13-mal Habeck, 10-mal Baerbock, Lindner, Altmaier, erst dahinter kamen Barley und Wagenknecht und dann Gauland. (Ich vermisse in der Aufstellung den gefühlten Dauergast Kubicki.) Als Themen wurden 13-mal die Große Koalition, je 8-mal Merkel und Trump, 7-mal Migration behandelt. Zwei Jahre zuvor, 2016, hatten Hochkonjunktur: 40-mal Flüchtlinge, 15-mal Islam, Gewalt, Terrorismus. Sitzen hier nicht die wahren Influencer, die mit großem Erfolg ihre Thesen platzieren, fast unter Ausschluss von Sozialdemokraten und Linken?
Sicherlich, sie war auch die Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Unter ihrer Führung wurde auf vielen Feldern gute Arbeit geleistet, in der kurzen Zeit seit dem 14. März 2018, als die neue Regierung ernannt wurde. Nachdem die FDP – auch das ist inzwischen fast schon aus dem Blick geraten – sich dem anderen Bündnis verweigert hatte.
Gerade hat die Abteilung Sozialpolitik des DGB im Rückblick auf das erste Regierungsjahr bilanziert, »dass diese so viel gescholtene schwarz-rote Koalition einiges Wichtige für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf den Weg gebracht hat«: Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, Sicherung des Rentenniveaus auf 48 Prozent, Verbesserungen für Erwerbsgeminderte, in der Pflege und – »trotz Fehlfinanzierung« – für die Rente von Müttern. Erfolge der SPD-Bundestagsfraktion, die, so scheint es, weitgehend an den Menschen vorbeigerauscht, aus ihrem Bewusstsein verschwunden sind, falls sie dort überhaupt ankamen. Eintagsfliegen in der Medienlandschaft. Auch hier gilt: Öffentlichkeitsarbeit mangelhaft.
Der DGB bilanziert weiter: »Ob nun das Glas halb leer ist oder halb voll, darüber lässt sich trefflich streiten. Sicher ist jedoch, es ist noch Platz, um es zu füllen.« Mit »guten, nachhaltigen, an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Lösungen«. Dazu zählt der Gewerkschaftsbund auch das Gesetz zur Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung, dessen Referentenentwurf durch den Bundesarbeitsminister im Mai vorgelegt wurde und der auf seine Verabschiedung wartet.
Und dann die Europawahl, mit einem Wahlkampf ohne Pep, mit einer Spitzenkandidatin, die zum Jagen, zur Kandidatur, getragen werden musste. Parallel dazu diverse kommunale Wahlen und die Bürgerschaftswahl in Bremen. Das Ergebnis: Alles in allem eine schmerzhafte Enttäuschung, ein Schlag ins Kontor. Alarmstimmung auch in der Bundestagsfraktion: Zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl, regulär im Herbst 2021, bekamen die sozialdemokratischen Abgeordneten ordentlich Muffensausen, Existenzängste. Und mehr noch die Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer zu den bevorstehenden Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen (1. September) sowie in Thüringen (27. Oktober).
Wenn dieser Sinkflug so weiterginge … Das Ruder muss herumgerissen werden. Schuld hat nur eine. Die Vortänzerin. Schuld sind nicht die Heckenschützen, die Quertreiber, die jetzt Morgenluft wittern. Die nie das Mitgliedervotum akzeptierten, das den Weg frei machte zu der von ihnen ungeliebten ehemals Großen Koalition, für sie die Quelle allen Übels. Die sich auf den Oppositionsbänken in den nächsten 15 Jahren regenerieren wollen: klein, aber fein.
Klar, sie hat Fehler gemacht, die ihr anhängen. Deren genüssliche Erwähnung fehlte in keiner Fernsehreportage zum Rücktritt. Stichworte: Verfassungsschutzpräsident Maaßen; »Ab morgen kriegen sie in die Fresse«; »Bätschi«.
Kein gutes Klima. Weder in der Fraktion noch draußen. Draußen im Lande, wo seit einiger Zeit vor allem in den großen Städten Freitag für Freitag monothematische Herrschaftskritik die Straßen erobert, sich in neuer Qualität in Demonstrationen für eine andere Klimapolitik äußert, kraftvoll, fast 50 Jahre nachdem der Club of Rome seine alarmierende Studie »Die Grenzen des Wachstums« vorstellte, die den ersten großen Schub für eine neue Umwelt- und Klimapolitik einleitete.
Diese Demonstrationen werden in ihrer Mehrheit von jungen Menschen getragen, die noch nicht geboren oder erst im Vorschulalter waren, als die sieben Jahre Regierungsbeteiligung der Grünen zu Ende gingen. Eine Regierungszeit, von der die jungen Leute in der Regel nichts oder nicht viel wissen und in der die heute angehimmelte Partei, beispielsweise, die Kriege auf dem Balkan und in Afghanistan – Außenminister damals: Joschka Fischer – sowie die Agenda 2010 des SPD-Kanzlers Schröder (Hartz IV) mitgetragen hat. Es ist eine spannende Frage, was passieren wird, wenn die Demonstranten erkennen müssen, dass ihr Erwartungshorizont mit dem Zeithorizont kollidiert.
Kein gutes Klima. Kein Rückhalt. Kein Vertrauen. Und kein Respekt. Kurzum: keine Basis mehr. Zeit zu gehen. Und für letzte Worte: »Bleibt beieinander und handelt besonnen!«
Auf der Website der Bundespartei führt ein Button zu einer Art Ehrentafel »Größen der Sozialdemokratie«, die mit Bahr, Bebel, Brandt beginnt. An 13. Stelle, dem Alphabet geschuldet, steht, fast Schulter an Schulter mit Ferdinand Lasalle und Erich Ollenhauer: Andrea Nahles. Sie hat nun das Handtuch geworden, nach 30 Jahren Kärrnerarbeit für ihre Partei. The carnival is over. Für sie.