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Titel1219

Europäische Verdrängung  (Georg Fülberth)

Dass die Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai eine »Schicksalswahl« werden würde, war eine Reklamelosung der sozial- und christdemokratischen Parteien der Mitte, der Grünen und der Liberalen sowie des ihnen gewogenen Teils der Medien. Es gehe um den Fortbestand der Europäischen Union.

 

Die aber stand in Wirklichkeit nie auf dem Spiel, wenn man sie als das nimmt, was sie ist: ein gemeinsamer Markt für Waren und Arbeitskräfte, eingebettet in weltweite Kapitalmärkte.

 

Das ist die Basis. Im Überbau ist zusätzlich von liberalen europäischen Werten die Rede, die von rechts in Gefahr gebracht würden.

 

Beschränken wir uns zunächst auf die ökonomische Basis. Die Gefahr, dass die EU zerbricht, bestand und besteht nicht. Auch die rassistisch-nationalistischen Parteien und Bewegungen (oberflächlich als rechtspopulistisch bezeichnet) wollen dies – mit der Ausnahme von Großbritannien, wo der Brexit auch ein Projekt eines Teils der Mitte ist – entweder explizit nicht, oder sie tun nur so als ob. Ihnen geht es lediglich um eine Machtverlagerung innerhalb eines von ihnen nicht in Frage gestellten wirtschaftlichen Rahmens: Freizügigkeit für Waren, Kapital und Arbeitskräfte innerhalb des Schengen-Raums ja, Liberalität nein. Verließen Polen und Ungarn die EU, stürzten Kaczynskis PIS und Orbáns Fidesz ins Nichts: Sie verlören von einem Tag auf den anderen ihre Massenbasis, weil die Transferzahlungen aus Brüssel ausblieben. Wie im Osten, so im Süden: In der griechischen Krise von 2015 war Schäuble von Anfang an auf der sicheren Seite, denn als die Gefahr bestand, dass an den Bankautomaten keine Euro-Scheine mehr zu erhalten wären, wurde die Grenze sichtbar, die Tsipras und auch seine nationalistischen Koalitionspartner niemals überschreiten wollten. Salvini in Italien braucht ebenfalls die Europäische Zentralbank (EZB), und er sogar besonders.

 

Der Brexit widerspricht dieser Erklärung nicht, er bestätigt sie: Großbritannien ist EU-Nettozahler – das benutzen Nationalisten als ihr Argument und halluzinieren überdies von neuen wirtschaftlichen Chancen durch eine Vitalisierung des Commonwealth und einer engeren Zusammenarbeit mit den USA. Manche mögen den globalen Kapitalhandel auf dem Finanzplatz London für wichtiger halten als etwaige zu erwartende Einbußen auf dem europäischen Warenmarkt.

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Wahl(ver)zettelei

JEDE ANSICHT GRÜNDET EINE PARTEI

JEDER EXTREME IST GEFÜHLT DABEI

WÄHLER SIND VÖLLIG ZERSPLITTERT

POLITIK GEWISSE STABILITÄT WITTERT

IM ERGEBNIS ENTSTEHT KAKOPHONIE

DIE MAN ERKLÄRT ZUR DEMOKRATIE

MEHRHEITEN RATLOS UND VERWIRRT

KAPITAL BESTIMMT REGELN UNBEIRRT

ÄMTER SEHEN EINE WACHSENDE WUT

FUSSBALL SOLL RUHE GEBEN UND GUT!                          

Richard Jawurek

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Das ökonomische Skelett der Europäischen Union ist keineswegs nur ein Arrangement von Eliten, es hat auch eine Massenbasis. Hier kommen tatsächlich die sogenannten europäischen Werte ins Spiel – als Widerspiegelung eines lebensweltlichen Angebots: Für junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte sind Reise- und Niederlassungsfreiheit eine Chance, bei Schüler(inne)n und Studierenden ist die EU beliebt, das Austauschprogramm »Erasmus« öffnet ihnen Horizonte, und sie nutzen es gern. Es gefiele ihnen nicht, bei Auslandsaufenthalten fremdenfeindlich angemacht zu werden, und sie sind auch zu Hause tolerant. Wer in der einen oder anderen Weise nicht mithalten kann – nicht qualifiziert genug, zu alt, zu arm, zu müde ist – steht solcher Liberalität mit Ressentiments gegenüber, die sich in der Regel aber weniger gegen innereuropäische Migration als gegen Geflüchtete aus Afrika und Asien (aber auch gegen Sinti und Roma aus der Slowakei und Rumänien) richten. Hier haben die rassistisch-nationalistischen Parteien ihre Klientel.

 

Der Wahlkampf entsprach diesen Stimmungslagen. Andere Themen wurden nur noch per Weichzeichner sichtbar. Die zunehmende Ungleichheit zwischen Reich und Arm wurde in der Forderung von SPD und Linkspartei nach einem »sozialen Europa« eher zart angedeutet. Sie zog nicht, da die Voraussetzung für ihre Realisierung: eine steuer- und abgabenpolitische Umverteilung von oben nach unten als machtpolitisch unrealistisch abgetan war – sehr früh, 2013, schon, als der damalige Wirtschaftsminister Gabriel die gut durchgerechneten Vorschläge des französischen Ökonomen abblitzen ließ. Der Versuch, sie in einer Massenbewegung wiederzubeleben – »Aufstehen!« – floppte.

 

Verschwunden war im Wahlkampf die sich anbahnende Militarisierung der EU und die Aufstockung des deutschen Wehretats. Es gibt ICAN Deutschland – den deutschen Zweig der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons. Im Wahlkampf konnte sie sich kein Gehör verschaffen, denn es besteht die Hoffnung, dass – anders als von der Friedensbewegung 1979–1983 befürchtet – die nächsten Bomben nicht auf deutsche Köpfe fallen werden.

 

Abschottung gegen Geflüchtete, Ertrinkende im Mittelmeer: Man sah einen ekelerregenden Werbespot der Liste Die Grauen und einen aufklärenden der Satire-Truppe Die Partei. (Schön, dass sie jetzt zwei Sitze hat.) Im Übrigen war dieses Thema Mobilisierungspotential für die rassistisch-nationalistische Rechte. Die Fürsprecher(innen) des »Europas der Werte« hatten herausgefunden, dass es im Wahlkampf hier keinen Blumentopf zu gewinnen gab, und hielten sich vornehm zurück.

 

Die Verdrängung dieser drei vorderhand unlösbar erscheinenden Probleme führte zur Projektion und Beschränkung auf ein viertes, ebenso schwieriges: Klimaschutz. Gut für die Grünen.

 

Erleichterung und Entsetzen der Werte-Europer(innen) bei der Wahlauswertung fielen gleichermaßen subaltern aus. Linkspartei, SPD und Union überlegen, wie sie bei »Fridays for Future« etwas für sich abgreifen können. Man freut sich darüber, dass die Wahlbeteiligung gestiegen ist und die AfD weniger zugenommen hat, als sie selbst gehofft haben mag. Wichtiger als Sachthemen ist die Mutter aller Fragen: Wer wird Präsident(in) der Europäischen Kommission? Normalbetrieb eben.

 

Dabei hat eine andere Zukunft längst begonnen:

Während die CDU verlor, hat die Orbán-nahe CSU zugelegt. In Brandenburg und Sachsen – da wird im September über die neuen Landtage entschieden – erhielt die AfD die meisten Stimmen. Im Vergleich zu dem, was da kommt, dürfte die Wahl zum Europäischen Parlament eher wie ein banales Event erscheinen.