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Homeoffice-Tagebuch (VI)  (Rüdiger Göbel)

27.5.: Trockenobst für zwischendurch

Nach zehn Wochen Homeschooling stellt Sandra Scheeres, Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, den zu heimischen Hilfslehrern zwangsverpflichteten Eltern den Ratgeber »Lernen zu Hause. So können Sie Ihr Kind jetzt unterstützen« zur Verfügung. Die elfseitige Broschüre ist digital eine Zumutung und Unverschämtheit – sorry, die Nerven liegen allmählich blank. Das dünne Heftchen kommt nicht nur reichlich spät, es ist auch wirklich nur eins zu eins als PDF-Printexemplar an die E-Mail angehängt. Sollen die Eltern doch schauen, wie sie das vernünftig am PC oder mobilen Endgerät lesen können, oder sich doch einfach mal einen Farbdrucker besorgen, den man eigentlich ja auch sonst für die heimschulische Aufgabenerfüllung für die Corona-Tage braucht. Berlins Bildungschefin rät nun also, fürs Zuhauselernen »eine positive Stimmung zu schaffen«. Gefragt seien »Aufmerksamkeit, Geduld und gern auch etwas Humor«. Und: »Ermutigen Sie Ihr Kind. Geben Sie ihm einen Vertrauensvorschuss. Zeigen Sie Interesse an seinem Lernerfolg. […] Und wie in der Schule gilt: Als Snack für die Pausen zwischendurch eignen sich Obst, klein geschnittenes Gemüse oder auch Trockenfrüchte.« Na dann. Die Ferien können kommen.

 

Im ZDF-Talk am Abend ist großes China-Bashing im Programm. Markus Lanz, der Grünen-Politiker Omid Nouripour und ZDF-Studioleiter Ostasien Ulf Röller, der aus Peking zugeschaltet ist, verschwörungstheoretisieren über »Mundschutzdiplomatie« der chinesischen Führung und wettern frei nach Donald Trump über die von dieser beeinflusste WHO. Bei dem Sperrfeuer aus dem medialen Schützengraben gegen die verhasste Volksrepublik hilft auch kein Trockenobst, positive Stimmung zu schaffen.

 

 

28.5.: Junge, komm bald wieder

Beim Italiener gegenüber spielt das erste Mal wieder ein junger Straßenmusikant für die Gäste an den Außentischen. »Junge, komm bald wieder« von Freddy Quinn auf dem Akkordeon, danach einen Walzer und noch ein Stück. Wunderbar, die gute Laune reicht bis auf unseren Balkon zum Abendessen. Für den Künstler ist es die erste Möglichkeit nach Wochen, etwas Geld zu verdienen.

 

 

29.5.: Philosophie in Echtzeit

Das erste Mal seit Mitte März, dass alle drei Kinder zum »Präsenzunterricht« in der Schule sind, wenigstens für ein paar Stunden Homeoffice ohne Mathe, Physik, Deutsch und Geschichte. Bis zu den Sommerferien wird es nach jetzigem Stand aber doch nur eine seltene Ausnahme bleiben.

 

In der Buchhandlung meines Vertrauens habe ich mir das gerade erschienene Buch »Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit« (Reclam-Verlag, 120 Seiten, 6 Euro) besorgt. Die Philosophen Nikil Mukerji und Adriano Mannino gehen der Frage nach, was zu tun ist, wenn wie im Fall der Corona-Pandemie existentielle Entscheidungen ohne sichere Datengrundlage und in größter Eile zu treffen sind. Nachdrücklich plädieren sie in ihrem Essay, »wechselseitig von unseren Erfahrungen und Fehlern zu lernen, gerade und besonders im Kontext globaler Katastrophenrisiken«. Sie tun dies reflektiert und ohne Hysterie, fragen zugespitzt, »warum die tragische Fallstudie Norditalien nötig war, die europäischen Gesellschaften wachzurütteln. Wuhan hätte eigentlich genügen müssen. Die 11-Millionen-Stadt erwirtschaftet ein Pro-Kopf-BIP von 18.000 Dollar, hat ein passables Gesundheitssystem und wurde bei nur wenigen hundert dokumentierten Fällen unter militärisch überwachte Quarantäne gestellt. Dennoch kollabierten die Krankenhäuser sofort. Auf dieser Grundlage allein hätte sich das Urteil aufdrängen müssen, dass auch uns mit einer Wahrscheinlichkeit Gefahr droht und schnelle Vorbereitungsmaßnahmen angezeigt sind.« Aus dem Verhalten Chinas habe sich der Schluss ziehen lassen, dass SARS-CoV-2 »hochgradig gefährlich sein könnte«. Die weiteren Indizien hätten die hiesigen Behörden, die Politik, die Wissenschaft und die Gesellschaft frühzeitig in hohe Alarm- und Reaktionsbereitschaft versetzen müssen. »Die nach außen demonstrierte Gelassenheit zu Beginn »mag gut gemeint gewesen sein«, so die Autoren. »Sie war dem Ernst der Lage aber nicht angemessen.« Nikil Mukerji und Adriano Mannino geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern um einen philosophischen Beitrag zur Präventionsarbeit, deren Dilemma sie skizzieren: »Typischerweise bekommt man für Präventionsarbeit weder Lob noch Dank. Denn wenn ein Schaden eintritt, war die Prävention offenbar schlecht oder nicht wirksam genug. Passiert dagegen nichts, dann hätte man sich die Mühe sparen können, weil am Ende ja nichts passiert ist. Präventionsarbeit erscheint also immer entweder schlecht oder überflüssig.« Die Lektüre des schmalen Bändchens sei den politisch Verantwortlichen wie auch den Hygienedemonstranten hiermit nachdrücklich empfohlen, die nur eine große Verschwörung von Bill Gates sehen wollen, nicht aber die vielen Toten in Wuhan, Bergamo, im Elsass, in Belgien und auch Schweden, in Trumps USA und Bolsonaros Brasilien …

 

 

1.6.: Westliche Doppelmoral

In den USA gehen seit Tagen Hunderttausende Menschen auf die Straße und demonstrieren gegen rassistische Polizeigewalt und soziale Ungerechtigkeit. Auslöser ist die Ermordung des Schwarzen George Floyd am 25. Mai in Minneapolis. Die chinesische Regierung wirft der US-Führung Doppelmoral im Umgang mit den Anti-Rassismus-Protesten vor. Während in Washington noch jede Randale in Hongkong zur Freiheitsbekundung umgemünzt wird, kommt in den US-Städten neben der Polizei die Nationalgarde zum Einsatz. Hu Xijin, Chefredakteur der chinesischen Zeitung Global Times, erinnert denn auch: »Die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, hat die gewaltsamen Proteste in Hongkong einst als ›schönen Anblick‹ bezeichnet – nun können die US-Politiker diesen Anblick von ihren eigenen Fenstern aus genießen.« (Übersetzungen: AFP)