Die Vereinigten Staaten, heute weniger vereinigt denn je, könnte man mit einem riesigen Granitblock vergleichen, der am Rand eines Abgrunds balanciert. Der Ausgang der Zitterpartie kann nicht nur US-Amerikaner, sondern jeden von uns betreffen!
Donald Trump wird immer unsicherer.
Noch Ende Februar, als Joe Bidens Wahlkampfmaschinerie Bernie Sanders verdrängte, schien Trumps Wiederwahl am 2. November fast sicher. Biden litt nicht nur an einem miesen politischen Image, sondern auch an wiederholten Zeichen des geistigen Abbaus.
Dann kam Corona! Noch im März witzelte Trump darüber, und im April prahlte er, wie er alles unter Kontrolle habe, doch im Mai wurde klar, wie kläglich er versagt hatte. Statt »Make Amerika Great Again«, wie er versprochen hatte, verweigerte er trotzig Gegenmaßnahmen und erreichte in den USA die größte Zahl Corona-Toter in der ganzen Welt. Seine Reaktion: Show-Manöver von Bombenfliegern über etlichen Städten, um »Dankbarkeit für den Einsatz des Krankenhaus-Personals« zu zeigen. Die meisten hätten lieber ausreichende medizinische Mittel. Die absurden Heilmittel, die er im Fernsehen lobte, etablierten ihn schließlich zur weltweit führenden Witzfigur.
Dann, schmerzhaft deutlich, die Video-Bilder vom kaltblütigen Mord an George Floyd, nicht etwa weit weg im Jemen, sondern im gutbürgerlichen, aufgeschlossenen Minneapolis, das stolz darauf war, wie friedlich dort eine Vielzahl von Nationalitäten zusammenlebten. Auf einmal geriet in den Fokus, dass große Teile der Bevölkerung stark benachteiligt und brutaler Gewalt ausgesetzt sind. Binnen Stunden – und nunmehr seit vielen Tagen – ziehen Hunderttausende auf die Straßen unzähliger Ortschaften, auch solcher, die noch nie eine Demonstration erlebt haben.
Für schwarze US-Amerikaner war der Tod ergreifend, schmerzhaft, er erzeugte eine ganz neue Dimension von Wut. Aber das Geschehen ist keinesfalls neu. Besonders für junge schwarze Männer birgt jeder Spaziergang, jede Autofahrt die Gefahr, das Opfer eines schießwütigen weißen Uniformierten zu werden, der Schwarze hasst oder eine Arrest-Quote erreichen will. Auch Nichtuniformierte wissen, dass sie bei Gewalt gegen Schwarze nur äußerst selten zur Rechenschaft gezogen werden: Am 23. Februar erschossen drei Zivilisten den jungen schwarzen Jogger Arbery. Sie glaubten, er sei »vielleicht ein Räuber«. Am 13. März stürmten Polizisten in Zivil mitten in der Nacht den Schlafraum der 26-jährigen Krankenschwester Breonna Taylor in Louisville (Kentucky) und erschossen sie; der Mann, den man angeblich suchte, war bereits verhaftet worden – 16 Kilometer entfernt. Die Liste ist lang: eine junge Professorin, die nicht richtig geblinkt hatte, ein 12-Jähriger, der mit einer Plastikpistole spielte – ja, im Grunde ist sie Jahrhunderte lang; nur heutzutage werden einige Fälle durch zufällige Videoaufnahmen unleugbar bekannt.
Im Fall von George Floyd sind die Bilder so eindeutig, so grausam, so mörderisch – dass Hunderttausende protestierten, fast wie der Ausbruch eines Vulkans.
An den ersten Protesttagen wurden auch Geschäfte geplündert und mehrere Polizeiwagen demoliert. Ein Polizeigebäude wurde besetzt und angezündet. Reaktionen meist Jugendlicher, die ihr Leben lang diskriminiert wurden, die keine richtige Wohnung, kaum Schulbildung, keine ausreichende Gesundheitsfürsorge und vor allem so gut wie keine Hoffnung haben – und dazu seit Monaten durch Corona ohne Jobs, aber auch ohne Konzerte oder andere Ablenkungen sind. Plötzlich bekamen sie eine Gelegenheit, ihren aufgestauten Hass mit der Möglichkeit zu verbinden, Gegenstände zu nehmen, die sie sich sonst nicht leisten konnten.
Doch bald zeigte sich ein anderes Bild: Die Proteste blieben wütend, doch fast ausschließlich friedlich, ja meist sogar artig mit coronabedingten Gesichtsmasken (wenn auch selten auf »social distance«). Besonders auffallend war die Teilnahme von Weißen, gemeinsam mit den Schwarzen, ja, wohl die Mehrheit. Eine neue Solidarität ist im Entstehen, besonders unter Jugendlichen – wohl oft die gleichen, die sich für Bernie Sanders eingesetzt hatten.
Wie reagiert Trump? Eine Solidarität zwischen Weißen, Schwarzen, Latinos und anderen Minderheiten ist für ihn und die Republikaner ein Schreckgespenst. Sie wissen längst, dass ihre Wählerschaft, die zuverlässigen, meist männlichen weißen Kräfte, auf die sie seit Jahrzehnten bauen, schwindet. Die Republikaner, Trump und seine immer schmalere Zahl Getreuer suchen Methoden, um dennoch ihre Macht zu erhalten. In allen Bundesstaaten, in denen sie stärker sind, setzen sie auf bereits etablierte Vorteile im politischen System für einen ländlichen Konservatismus. Hinzu kommen allerlei Tricks, welche unfair die ländlichen weiß-beherrschten Bundesstaaten und Wahlbezirke bevorzugen.
Die Wahlgesetze in manchen Bundesstaaten fordern komplizierte Identifizierungen, um sich für die Wahl registrieren zu lassen, gerichtet vor allem gegen Schwarze, Latinos und Studenten. Hinzu kommt eine unfaire Verteilung der Wahllokale, wodurch stundenlange Schlangen entstehen, Schwierigkeiten bei der Briefwahl, die aber wichtig ist, weil der Wahltag immer ein Dienstag, also nur selten arbeitsfrei, ist. Dazu gesellt sich berechtigter Zweifel an der einwandfreien Funktionstüchtigkeit der Wahlgeräte. In manchen Bundesstaaten werden zudem Wähler von der Wahl ausgeschlossen, die einmal eine Strafe abgesessen haben – meist Schwarze.
Aber Trump baut auch auf andere Methoden: ein Heer inoffizieller Wahlbeobachter, die Verängstigte abschrecken sollen. Darunter die ignorantesten Abtreibungsgegner, Homophobe und Armageddon-Gläubige, die gefährlichsten Rassisten und Sammler schwerer Waffen – voller Hass gegen Linke, Eliten (die den Wissenschaftlern glauben) und vor allem Farbige. Sie reden schon von »Boogaloo«, ihrem »Tag der Abrechnung«, der besonders ins Gespräch kommt für den Fall, dass Trump im November der Wahlsieg »geraubt« wird.
Nicht selten stecken diese Anhänger in Polizeiuniformen, wie der Mann, der George Floyd auf dem Gewissen hat, Derek Chauvin, und seine drei Mittäter. Das sind die Kräfte, auf die Trump zunehmend zählt. Die mit Pfefferspray und Tränengas, auch mit ihren Schlagstöcken und in einigen Fällen sogar mit ihren Autos rücksichtslos gegen Demonstranten vorgehen.
Nach ein paar hohlen Worten des Bedauerns über den Mord ging der US-Präsident schnell zu ganz anderen Tönen über: »Schießen!« »Mehr Truppen heranholen!« Sonst, warnte er, wenn die zimperlichen demokratischen Gouverneure das nicht täten, würde er schon Truppen einmarschieren lassen. Zum Teufel mit der Verfassung! Er rief aus: »Virginia und Michigan befreien.« Als sich friedliche Demonstranten um das Weiße Haus versammelten, floh er in den unterirdischen Bunker. Als das als Feigheit angesehen wurde, marschierte er furchtlos zu einer bekannten Kirche in der Nähe und winkte dort mit einer Bibel. Dann erfuhr man, dass der Weg dahin von Soldaten brutal mit Tränengas und Projektilen geräumt worden und die zuständige Bischöfin über den Missbrauch ihrer Kirche entsetzt war.
Die Proteste dauern an, Trumps Ängste um die Wahl wachsen, und es bleiben einige äußerst ernste Fragen: Was kann man Donald Trump und den Kräften hinter ihm zutrauen? Das oft tabuisierte Wort »Faschismus« hört man häufiger heutzutage, wo Tausende verhaftet und Hunderte verletzt werden, wobei – was relativ neu in den USA ist – etliche Journalisten, deutlich als Pressevertreter erkennbar, von der Polizei gezielt besprüht und auch angeschossen werden; in einem Fall hat das ein Auge gekostet. Werden Polizisten und Nationalgardisten sich noch weiter mit dem Rassisten-Mob zusammenfinden?
Oder werden diejenigen Polizisten stärker das Bild prägen, die sich mit den Demonstranten solidarisieren? Und wird sich eine empörte Mehrheit durch den schlimmen Vorfall und die offizielle Reaktion zusammenfinden und gemeinsam gegen Rassismus aufstehen? Werden solche, die Sanders, aber nicht den schwachen Biden unterstützen, sich mit den Biden-Anhängern einigen und auf ihn setzen, ihn möglichst unter Druck setzen, damit er die dringend nötigen Änderungen in der ganzen Gesellschaft angeht, vor allem die großen Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich beseitigt?
Viele Linke – aber längst nicht alle – sagen jetzt, dass eine Unterstützung Bidens nicht mehr die alte unglückliche »Kleinere-Übel«-Wahl wie so oft in früheren Jahren ist, sondern eine Frage der »kleineren Gefahr«, dass alles getan werden muss, um Trump zu stoppen.
Es sind schwierige Zeiten, die allerdings neue Hoffnung bringen durch die Hundertausende, die Tag für Tag demonstrieren – nicht allein gegen polizeilichen Blutdurst und Brutalität, sondern gegen eine Gefahr, die nicht nur US-Amerikaner bedroht. Wird dabei die Erkenntnis wachsen, dass die Probleme im Lande mit der Aggression in der Welt zusammenhängen und damit mit der Gefahr weiterer, viel größerer Kriege – oder der Vernichtung?