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Covid-19 – Nutznießer der Austerität  (Johann-Günther König)

Seit dem 4. April hat die 120 Jahre alte Labour Party einen neuen Vorsitzenden: Keir Starmer. Der Nachfolger des nach der jüngst krachend verlorenen Unterhauswahl zurückgetretenen Jeremy Corbyn hat sich als Generalstaats- und Menschenrechtsanwalt einen Namen gemacht. Beim legendären Referendum 2016 setzte er sich für den Verbleib in der Europäischen Union ein und trat kurz darauf mit anderen Labour-Politikern aus dem Schattenkabinett von Parteichef Corbyn aus, weil er dessen zögerliche und wenig engagierte Haltung in der Frage des Brexits ablehnte (immerhin hatte ein erheblicher Teil der Labour-Anhänger entgegen der offiziell vertretenen Parteilinie für den EU-Austritt gestimmt). Zudem unterstützte Starmer bei den im September 2016 durchgeführten Wahlen zum Parteivorsitz den gemäßigt linken Kandidaten Owen Smith gegen den sich als »demokratischen Sozialisten« bezeichnenden Corbyn, der allerdings mit immerhin rund 62 Prozent der Stimmen seinen Vorsitz behaupten konnte. Als Corbyn seinem Kritiker kurz darauf den Posten des Brexit-Schattenministers (Shadow Secretary of State for Exiting the European Union) anbot, nahm Keir Starmer bemerkenswerterweise die Berufung an und folgte trotz seiner proeuropäischen Haltung fortan den Vorgaben Corbyns. Jedenfalls gehörte er zu denjenigen oppositionellen Parlamentariern, die die Regierung von Premierministerin Theresa May autorisierten, im März 2017 den Austrittsantrag an die EU zu stellen, was dann auch geschah. Zugleich forderte er ein zweites Referendum über den von der Regierung in der Folge ausgehandelten Brexit-Vertrag.

 

Unmittelbar nach seiner Wahl bat Keir Starmer in seiner neuen Funktion als Labour-Chef den Deputiertenausschuss britischer Juden brieflich und per Video um Entschuldigung für den seit Jahren immer wieder zu Tage getretenen Antisemitismus in seiner Partei. Zugleich versicherte der 2014 von der Königin für »Verdienste um Recht und Strafverfolgung« geadelte sozialdemokratische Hoffnungsträger der Regierung unter Boris Johnson seine Unterstützung im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie.

 

Die von Boris Johnson im Dezember 2019 installierte Tory-Regierung hat in ihren von Brexisten dominierten Reihen zahlreiche Ministerinnen und Minister, die administrativ alles andere als erfahren sind und spätestens seit dem Beginn der Corona-Krise genauso überfordert wirken wie ihr Chef. Wie betonte nicht Boris Johnson am 3. März in der Downing Street: »Wir haben bereits einen fantastischen NHS [National Health Service], fantastische Testsysteme und eine fantastische Überwachung der Ausbreitung von Krankheiten.« – Hatten die Briten realiter aber nicht, denn es fehlte an Intensivbetten und Beatmungsgeräten, an Schutzbekleidung, Einmalhandschuhen und Gesichtsmasken für die Mitarbeiter in den Kliniken und Altersheimen sowie erheblich an Tests. Im Übrigen waren im Laufe des März gut ein Viertel der rund 500.000 Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger krank gemeldet oder in der Selbstisolation. Schließlich zog Johnson am 23. März in einem »Prime Ministerial Statement« die Reißleine und erließ harte Ausgangsbeschränkungen, weil ohne »eine riesige nationale Anstrengung zum Aufhalten des Virus« das staatliche Gesundheitssystem NHS nicht mehr alle Schwerkranken versorgen könne. Dennoch stieg die Zahl der Toten und Infizierten täglich weiter, wobei gegen alle Bitten der Experten zunächst nur die Todesfälle aus den Krankenhäusern, nicht aber die aus den heftig betroffenen (Alten-) Pflegeheimen und nichtstationären Einrichtungen veröffentlicht wurden.

 

Der neue Oppositionsführer Keir Starmer versteht sich zunehmend darauf, der der Corona-Krise offenbar nicht gewachsenen Regierung und ihrem Chef Johnson ihre Verfehlungen zu verdeutlichen. Das zeigte sich nicht zuletzt im Mai, als der Architekt der Brexit-Kampagne und einflussreiche Chefberater Dominic Cummings in den Fokus der Medien geraten war, weil er trotz strenger Ausgangsbeschränkungen eine lange Reise zu seinen Eltern und einen weiteren Ausflug unternommen hatte. Zwar behauptete Cummings, er habe im Rahmen der Lockdown-Regeln gehandelt, und teilte die Polizei schließlich mit, der Sonderberater brauche nicht mit Konsequenzen zu rechnen; aber seine offenbaren Verstöße gegen die Regierungsauflagen lösten sowohl in der breiten Bevölkerung als auch bei der Opposition und sogar bei diversen konservativen Abgeordneten Rücktrittsforderungen aus. Der Tenor lautete – hier in den Worten des Tory Steve Baker: »Dominic Cummings muss gehen, bevor er Großbritannien, der Regierung, dem Premierminister, unseren Institutionen oder der Conservative Party noch mehr Schaden zufügt.« (BBC, 25.5.2020, eig. Übers.) Premier Boris Johnson stellte sich jedoch hinter seinen mit am Kabinettstisch sitzenden Top-Strategen und blockte alle Fragen zu der »politisch motivierten Angelegenheit« ab. Sehr zum Unwillen Keir Starmers. »Boris Johnson hätte einen Strich unter die Dominic-Cummings-Saga ziehen sollen, aber er war zu schwach, um zu agieren«, ließ er am 28. Mai die BBC wissen und betonte, unter ihm wäre Cummings »längst entlassen« worden.

 

Der Regierungschef, der sich bis zum Beginn der Corona-Krise im Wohlwollen seiner großen Fraktion und der konservativen Medien – einschließlich der auflagenstarken Boulevardblätter – sonnen konnte, verliert seit Wochen tendenziell an Rückhalt selbst bei seinen großen Fans. Seine Umfragewerte sinken. Denn auch die zum Juni-Beginn in Kraft getretenen, teils widersprüchlichen Lockerungen schaffen nur bedingt Klarheit. So gibt es beispielsweise keine gesetzliche Pflicht, Masken zu tragen – selbst nicht in den stark frequentierten Londoner U-Bahnen, wo kaum jemand die geforderten 2-Meter-Abstände einhält. (»Wearing a face covering is optional and is not required by the law.«) Und weil Premier Johnson die Lockerungen zuvor nicht mit Schottland, Wales und Nordirland abgestimmt hatte, erntete er zusätzlich Kritik, denn nun gelten in England andere Regeln als im Rest des Landes. Die Zahl der Kommentatoren, die den Umgang der Regierung mit der Krise als Katastrophe geißeln, nimmt jedenfalls zu. Sogar die Tory-freundliche Tageszeitung Daily Telegraph verliert zunehmend die Geduld mit ihrem einstigen Star-Kolumnisten.

 

Boris Johnson führt eine Regierung, deren groteskes Corona-Missmanagement bereits mehr als 50.000 Menschen im (noch) Vereinigten Königreich das Leben gekostet hat. »Wir haben die höchsten Todeszahlen in Europa und die zweithöchsten in der Welt«, statuierte Keir Starmer bei einer Fragestunde im Parlament und fuhr fort: »Das ist kein Erfolg […] – kann der Premierminister uns bitte sagen, wie um Himmels willen es dazu kommen konnte.« Der vermeintliche Gute-Laune-Bär Boris blieb dem eloquenten Schatten-Premier in seiner missmutigen Gegenrede jedoch Angaben über konkrete Gründe schuldig, beließ es bei dem unnützen Hinweis auf die Problematik internationaler Vergleiche. Der scharfsinnige Starmer wiederum hatte zuvor auf einer Videokonferenz bereits verdeutlicht, warum die Pandemie ausgerechnet im Vereinigten Königreich einen so guten Nährboden gefunden hat. Die von den Tories über zehn Jahre lang extrem praktizierte Austeritätspolitik hat einen so »schweren Schaden« angerichtet, analysierte er, dass das Land keine ausreichenden Abwehrkräfte mehr hat.

 

In der Tat hat die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit massiv zugenommen. Sie beschleunigte sich – um genau zu sein – am 22. Juni 2010, als Schatzkanzler George Osborne die bislang umfassendste Kürzungsperiode der Ausgaben für den öffentlichen Dienst seit dem Zweiten Weltkrieg ankündigte. Die tiefgreifenden Kürzungen bei Dienstleistungen, Kommunalverwaltungen und dem Gesundheitssystem NHS sowie generell die von den Tories durchgesetzte Umstrukturierung und Vermarktung des öffentlichen Sektors haben dazu geführt, dass Großbritannien größere Notfälle kaum mehr bewältigen kann. Eben deshalb ist die Corona-Todesrate in den ärmeren Großstadtvierteln und Regionen doppelt so hoch wie in den reicheren, sind Angehörige der asiatischen und schwarzen Bevölkerungsgruppen stärker betroffen als die weißen europäischen.

 

»Wenn ein einzelner einem andern körperlichen Schaden tut, und zwar solchen Schaden, der dem Beschädigten den Tod zuzieht, so nennen wir das Totschlag«, formulierte Friedrich Engels um 1844 in seinem bahnbrechenden Werk »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«. Und weiter: »Wenn der Täter im voraus wußte, daß der Schaden tödlich sein würde, so nennen wir seine Tat einen Mord. Wenn aber die Gesellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, daß sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen, einem Tode, der ebenso gewaltsam ist wie der Tod durchs Schwert oder die Kugel; wenn sie Tausenden die nötigen Lebensbedingungen entzieht, sie in Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht leben können; wenn sie sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt, in diesen Verhältnissen zu bleiben, bis der Tod eintritt, der die Folge dieser Verhältnisse sein muß; wenn sie weiß, nur zu gut weiß, daß diese Tausende solchen Bedingungen zum Opfer fallen müssen, und doch diese Bedingungen bestehen läßt – so ist das ebensogut Mord wie die Tat des einzelnen, nur versteckter, heimtückischer Mord, ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch wieder niemand dieser Mörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht und weil er weniger eine Begehungssünde als eine Unterlassungssünde ist. Aber er bleibt Mord. Ich werde nun zu beweisen haben, daß die Gesellschaft in England diesen von den englischen Arbeiterzeitungen mit vollem Rechte als solchen bezeichneten sozialen Mord täglich und stündlich begeht; daß sie die Arbeiter in eine Lage versetzt hat, in der diese nicht gesund bleiben und nicht lange leben können; daß sie so das Leben dieser Arbeiter stückweise, allmählich untergräbt und sie so vor der Zeit ins Grab bringt; ich werde ferner beweisen müssen, daß die Gesellschaft weiß, wie schädlich eine solche Lage der Gesundheit und dem Leben der Arbeiter ist, und daß sie doch nichts tut, um diese Lage zu verbessern.« (MEW Bd. 2, Berlin 1972, S. 324-326)

 

Und wer hat heute zu beweisen, dass die konservativen Regierungen seit über einem Jahrzehnt Bedingungen geschaffen haben, die – wie Engels schreiben würde – »eine übermäßige Proportion von Sterbefällen, eine fortwährende Existenz von Epidemien, eine sicher fortschreitende körperliche Schwächung der arbeitenden Generation« nach sich ziehen? Doch wohl Keir Starmer und die von ihm geführte Labour Party.