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Titel1220

Charakterfragen  (Harald Kretzschmar)

Goethe wusste es mal wieder am besten: »Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt.« Da hatte er etwas Wesenhaftes ans Tageslicht gehoben. Und mein Deutschlehrer meinte es sicher gut mit mir, diesen Spruch als Aufsatzthema zur Abiturprüfung vorzugeben. Mein sich still vor sich hin bildendes Talent war da leider noch unzulänglich auf die schreibende Pflege sprachlichen Ausdrucks trainiert. Der Strom der Welt walkte gerade meinen Charakter kräftig durch. Im Ergebnis zeitigte mein tief schürfendes Durchgrübeln des spannenden Themas zwar Ansätze zu origineller Interpretation. Doch deren unbeholfene stilistische Ausformung rechtfertigte nur die Zensur Drei minus.

 

Der strafende Hieb in die moralische Magengrube saß mal wieder. Das Thema sollte mich nie wieder loslassen. Talentfragen beschäftigten mich sowieso ununterbrochen. Es ging darum, Geist und Hand zu üben, den für mich charakteristischen Ausdruck zu finden. »Strom der Welt« ist gut gesagt. Charakterbildung heißt auch, eine überzeugende Form zu schaffen. Der individuelle Ausdruck einer Persönlichkeit gehört dazu. Von der Stimmfärbung über Gestik bis zur eigenen Art, geradeaus, leicht um die Ecke oder rundum zu denken, geht das. Von da aus tut es gut, über Charakterliches nachzudenken.

 

Das Wort Charakter ist ja fast zum Unwort mutiert. Bei der Einschätzung persönlicher Qualitäten spielt es eine so geringe Rolle – kaum wahrnehmbar. Also wenig erstrebenswert. Und als moralische Kategorie hat es ohnehin abgewirtschaftet. Seit es Mode geworden ist, über so etwas wie »Gutmenschen« hemmungslos herzuziehen, wackelt da ein Image gehörig. Die englischen Vokabeln »good will« und »common sense« – wo ist ihr Kurswert geblieben? »Gesundes Volksempfinden« als Ersatz ist schlimm. Und »Politik verdirbt den Charakter« erweist sich als durchaus zutreffend: Ein integer erscheinender Wahlsieger mutiert leicht zum skrupellosen Machthaber. Der bescheidenste Triumph reißt mitunter alle hemmenden Barrieren ein.

 

Labile charakterliche Anlagen verfestigen sich da gern zu Dünkel, Herrschsucht und Rechthaberei. Pikant: Die als »Soziale Medien« klassifizierte digitale Spielwiese beweist, wie ein Sozialempfinden dabei verkümmern kann. Wenn das Ego die Herrschaft antritt, bringt das alle charakterlichen Anlagen in die Krise. Wie ein Virus frisst sich da etwas in die wankelmütige Mentalität unfertiger Charaktere. Meinungsfreiheit den Meinungslosen ist anscheinend die Devise. Was im täglichen Leben ein juristisch gesicherter Moralkodex regelt, ist da plötzlich außer Kraft gesetzt. Schimpfkanonaden, aus unflätigem Wortschatz gespeist, beleidigen Hinz wie Kunz. Eine kriminelle Energie breitet sich virtuell effektiv aus. Genaugenommen kann nicht alles ein Gesetzgeber regeln. Gibt es denn nicht noch andere moralische Instanzen? Da war doch mal was ...

 

Ja, die hohe oder niedere Geistlichkeit war das. Doch sie ist stets anderweitig beschäftigt. Friedliche Revolution, welche Aufgabe! Eine mehrheitlich nicht mehr praktizierte Religion lief zur Hochform auf. Niederzumachen, was an ihrer Stelle erhöht war. Sie fand noch nie so schnell, so gründlich, so kurz Gehör. Geschichte durfte schreiben, wer reinen Herzens war. Und wie mit Engelszungen redete. Es galt den Teufel der Diktatur auszutreiben. Ja, sogar deren schwer bewaffnete Dienerschaft trat folgsam an, um Reue zu zeigen. Ohne dass ein einziger Schuss fiel, durften die Guten das Gute zur Geltung bringen. Vom »Strom der Welt« blitzblank geputzte Charaktere strahlten nur so von lauterer Edel-Gesinnung. Doch Pech gehabt – das Glück eines Erfolges blieb ihnen versagt. Denn gleichzeitig spülte das Schicksal Glücksritter aller Couleur auf die Siegerstrecke.

 

Diese Leute sind in den zu überliefernden Annalen als »Sieger der Geschichte« festgehalten. Ihre unbezweifelbaren Talente hatten sie spektakulär zu Erfolgsbringern gebildet. Sie waren mit der ihnen gemäßen Weisheit löffelweise gefüttert. Gern bereit, dieselbe in angemessener Weise weiterzuverbreiten, ließen sie nichts anderes mehr gelten. Ihre Charaktere verhielten sich »siehe oben«. Denn die Versuchung, Gewinn zu machen, ruiniert am Ende den besten Charakter. Tricks erst geben den rechten Kick. Weil nun mal der »Strom der Welt« deformiert – ist nun stromlinienförmiges Agieren angesagt. Talente, falls vorhanden, sind zu vermarkten. Und der Markt ist immer einer der extremen Eitelkeiten.

 

Wer dagegen seine Tage gottesfürchtig hinbringt, achtet die Schöpfung. Alles Schöpferische ist ihm heilig. Eitles Marktgehabe? Da hat er nichts verloren. Denn im Namen Jesu gehören Klugschwätzer und Gschaftlhuber aus dem Tempel geworfen. Tage und Wochen machten die friedliche Revolution zu einer charakterlich lauteren Revolte. Barfüßer der Gesellschaft betraten verschmutztes politisches Parkett. Doch wie schnell sortierten sich da die Charaktere! Von der Diktatur Beengte lernten die Freiheit, die Ellbogen zu gebrauchen. Der Parteiungen Gezänk vereinnahmte sie. Der andere Fall wäre denkbar: Priesterliche Autoritäten aller Religionen könnten Charisma und Kompetenz beweisen, moralische Grundsätze anzumahnen. Aber wovon träumen wir da ...