»Raketen, Fernbomber und Sabotagetrupps: Knapp sechzig Jahre vor den Attentaten auf New York am 11. September 2001 träumten die Nazis davon, die US-Metropole in Schutt und Asche zu legen. Dass ihre Pläne scheiterten, lag an der Unmöglichkeit ihrer Ideen – und am Dilettantismus ihres Agentenpersonals«, schrieb am 9. September 2010 der »Spiegel« in der Story »Bomben auf Big Apple«.
Wie dilettantisch das Agentenpersonal vorging, wie das FBI agierte, wie NS-begeistert deutsche Nationalisten in den »deutschen« Vierteln der Stadt Hitler als »Mann der Stunde« feierten, von der Sympathie gleichermaßen NS-begeisterter antisemitischer und rassistischer amerikanischer Gruppierungen begleitet, das alles ist nachzulesen in dem in diesem Frühjahr erschienenen Buch »Der Empfänger« der in Berlin lebenden Schriftstellerin Ulla Lenze. Sie hat in diesem an Tatsachen ausgerichteten Roman »die Lebensgeschichte [ihres] Großonkels Josef Klein zu großen Teilen verarbeitet«. Allerdings ist die literarische Figur Josef Klein ihre »Erfindung«.
Klein wurde 1903 in Neuss am Rhein geboren und war somit nur ein Jahr jünger als der Protagonist in dem 1928 erschienenen Erfolgsroman »Jahrgang 1902« von Ernst Glaeser, einer desillusionierenden Darstellung der Zeit um den Ersten Weltkrieg. Im Januar 1925 wanderte er in die USA aus, für alle nur »Amerika«, mit einer billigen Winterfahrkarte auf dem Deck der dritten Klasse, über das der schwarze Rauch aus den Schornsteinen des Dampfers fauchte.
»Er spürte noch ihre Hand auf seinem Haar, das sie ihm am Tag vorher geschnitten hatte. Sie würden sich wohl nie wiedersehen, denn wer nach Amerika ging, der war weg. So sagte das seine Mutter, wer nach Amerika geht, ist weg. Sie klang gefasst.«
Die Mutter sieht Klein tatsächlich nie wieder. Die alte Heimat erst im Sommer 1949. Dazwischen liegt ein Vierteljahrhundert, dessen Verlauf der Auswanderer sich mit Sicherheit anders vorgestellt hatte.
Die weitläufig verwandte Familie, bei der er für den Anfang unterzukommen gehofft hatte, verließ er nach nur einer Nacht: »Sie wohnte in einem speckigen Zimmer, fünf Kinder, alle husteten.« »Die Straße ging in diesem Elend weiter.«
Tage, Wochen vagabundierte er durch die »Schlucht[en] aus grauem Stein. Ein Dröhnen stieg aus der Stadt auf. Ein Hämmern, Klopfen, Metall auf Metall. Sirenen heulten … Eilige Männer um ihn herum, er selbst schien unsichtbar, nur wenn er stehen blieb, konnte er sie ärgerlich schnaufen hören.« Treibsand. Bis ihn Arthur entdeckte, mit seinem vertraut-freundlichen Blick und dem »rotblonden Charlie-Chaplin-Schnurrbart«: »Er erteilt sich den Befehl, Arthur zu vertrauen.« Endlich eine Unterkunft, ein Schlafsofa. Aus Josef wird Joe. Arthur hat eine Druckerei. Hier entstehen Flugblätter, auch für amerikanische Rassisten und NS-Begeisterte. Joe bringt sie zu den jeweiligen Auftraggebern.
Joe hat eine Leidenschaft. Er ist Amateurfunker. Seine technischen Fähigkeiten sprechen sich auch in deutschen Kreisen herum, und Anfang 1939 kommt Max in seine Wohnung, der über das Gerät lange Zahlenreihen nach Deutschland durchgibt, obwohl Verschlüsselung verboten ist. Angeblich Bestellungen, Reklamationen, Kundendaten, neue Standorte im Auftrag eines Import-/Exporthändlers, alles Geschäfte. Zwanzig Dollar sind der Lohn. Man spricht über Deutschland, wo inzwischen, wie Max sagt, »Swingheinis verhaftet« werden. Man spricht über den kürzlichen Aufmarsch mit Hakenkreuzen im Madison Square Garden. Beim nächsten Treffen ist ein zweiter Mann dabei, wieder werden Zahlenreihen gesendet. Wieder gibt es Dollars zum Lohn.
Als Joe Arthur berichtet, er habe zwei seltsame Typen in seiner Wohnung, die seine »Funkstation für eine Hamburger Textilfirma in Beschlag nehmen und auch mich, … und dafür kriege [er] einen Haufen Geld«, warnt ihn Arthur: »Du weißt, dass du dafür ins Gefängnis kommen kannst … Für die Deutschen zu arbeiten ist extrem leichtsinnig.« Eine Meinung, die auch die neue Freundin teilt, ebenfalls eine Funkamateurin, mit deren Unterstützung sich Joe nach und nach von seiner naiv-ideologischen Verblendung lösen kann. Den Rest besorgt im August 1940 das FBI, das die Gruppe schon länger auf dem Raster hatte und dem sich Joe auf Druck der Freundin offenbart. Eine Zeitlang muss er auf Anweisung so weitermachen wie bisher und das FBI über seine Aufträge informieren. Im Frühjahr 1941 werden alle verhaftet, 33 Agenten. Gefängnis, Internierung auf Ellis Island, Abschiebung ins vom Krieg zerstörte Deutschland im Juni 1949 sind der weitere Weg.
Ohne Papiere landet Josef bei seinem Bruder in Neuss. Da seine FBI-Connection nicht bekannt geworden war, besorgt ein früherer NS-Verbindungsmann, der ebenfalls New York verlassen hat, als Dank für die Unterstützung beim Funken einen neuen, gefälschten Ausweis. Die NS-Fluchthelfer haben in jenen Tagen viel zu tun. Und bald schon wird aus Josef/Joe im fernen Costa Rica Don José, ein angesehener Mitarbeiter des geografischen Instituts. Dort in Südamerika, mit Schwerpunkt Argentinien, träumen emigrierte Nazis davon, mit Hilfe der Deutschen Reichspartei bei der Bundestagswahl im Herbst 1953 Adenauer und seine Clique wegfegen zu können. Don José muss sich entscheiden.
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Anmerkung K. N.: Spitzenkandidat der Deutschen Reichspartei (DRP) im Bundestagswahlkampf 1953 war der Schlachtflieger und höchstdekorierte Soldat der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg Hans-Ulrich Rudel. Einer meiner Gymnasiallehrer war glühender Verehrer Rudels und Anhänger der DRP. – Charles Lindbergh, dem 1927 mit dem Nonstopflug von New York nach Paris die erste Alleinüberquerung des Atlantiks gelungen war, wird in dem Buch (S. 239) mit seiner Warnung vor dem Kriegseintritt der USA erwähnt. L. war der bekannteste Sprecher einer isolationistischen Vereinigung. Er trat dafür ein, sich mit den neuen Machtverhältnissen in Europa abzufinden. Er galt vielen als Sympathisant der Nationalsozialisten und Antisemit. Der Name der Gruppe lautete: America First (!) Committee.
Ulla Lenze: »Der Empfänger«, Roman, Klett-Cotta, 302 Seiten, 22 €