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Bemerkungen

Liebe

Man hat ihnen das Leben geschenkt

jetzt wollen sie mehr

wollen Zeit haben

wollen geliebt werden

 

 

Suchen den Schutz in der Familie

wollen jemanden für sich

verstehen nicht

dass keiner Zeit hat

 

 

merken dass beim Älterwerden

keiner da ist, wenn sie ihn brauchen

immer weniger Zeit

für sie bleibt

 

 

Sie suchen den Halt

fordern Verständnis

suchen nach Liebe

möchten geborgen sein

 

 

Die anderen sprechen von Liebe

versuchen Wünsche zu erfüllen

verstehen nicht

was sie wollen

 

 

so verlieren die Kinder die Liebe

finden keinen Halt

wissen nichts von Geborgenheit

stolpern in die Zukunft

 

Bernhard Büscher

 

 

 

Grundsicherung beschlossen

Am 28. Mai beschloss das spanische Parlament eine Grundsicherung. Vor allem Pablo Iglesias, Vorsitzender der Partei Unidos Podemos (UP) und Vizeministerpräsident im Kabinett, hat sich für die Grundsicherung eingesetzt. Damit will die Linksregierung gegen die Armut im Lande vorgehen, die durch die Corona-Pandemie stark angestiegen ist.

 

Die Grundsicherung ist für alle Bürger vorgesehen, deren Bruttoeinkommen unter 1000 Euro monatlich liegt und die zwischen 23 und 65 Jahren alt sind. Der Betrag beginnt bei 462 Euro pro Monat und steigt bei einer mehrköpfigen Familie bis auf 1015 Euro an. Die neue Leistung entspricht etwa der Sozialhilfe hierzulande. Vorgesehen ist auch, dass Werktätige mit geringen Gehältern diese mit Hilfe der Grundsicherung aufstocken können. Die staatliche Unterstützung ist für etwa 2,3 Millionen Menschen vorgesehen. »Die Grundsicherung ist gekommen, um zu bleiben«, sagte der Minister für Inklusion, soziale Sicherheit und Migration, José Luis Escrivá, nach der parlamentarischen Zustimmung gegenüber der Presse. Sie werde nicht nur in den Corona-Krisenmonaten gezahlt, führte er weiter aus.

 

Von den 47 Millionen Einwohnern Spaniens gilt ein Fünftel, 8,8 Millionen, als arm – mehr als im EU-Durchschnitt. Auf dem Arbeitsmarkt des Landes macht sich auch die Pandemie bemerkbar. Seit März stieg die Zahl der Arbeitslosen auf fast vier Millionen an. Auch die Kleinstunternehmer und Selbstständigen müssen den Staat inzwischen um Hilfe bitten, da ihnen die Einnahmen weggebrochen sind.

 

Spanien will die Grundsicherung noch im Juni an die ersten 100.000 Haushalte auszahlen. Nach vorsichtigen Schätzungen können bis zu 850.000 Familien von der neuen Leistung profitieren. Die Zahlung erfolgt nicht ohne Bedingungen: Die Einkommen und Vermögensverhältnisse hat der Antragsteller offenzulegen. Die Kosten für die Grundsicherung werden auf circa drei Milliarden Euro jährlich geschätzt. Für die rechte Opposition im Parlament von Partido Popular und VOX ist das zu viel an sozialer Hilfe.

 

*

 

An dem Tag, an dem das Parlament die Grundsicherung beschloss, verkündete der japanische Autobauer Nissan, dass er in Barcelona die PKW-Produktion einstellen werde. Das dortige Werk ist die zweitgrößte Automobilproduktionsstätte in Katalonien mit 3000 direkten und bis zu 20.000 indirekten Arbeitsplätzen. Die Zentrale in Yokohama/Japan will die internationale Produktion neu organisieren. Die katalanische Regionalregierung, die Stadtregierung von Barcelona und die größte spanische Gewerkschaft Confederación Sindical de Comisiones Obreras (CCOO) fordern, den Beschluss der Schließung des Werkes aufzuheben. Spanien und Katalonien haben das Werk subventioniert, während Nissan seit einem Jahrzehnt keine Investitionen mehr getätigt hat.

 

*

 

Ein sechstes und letztes Mal verlängerte die spanische Linksregierung den Corona-Notstand, nun bis zum 20. Juni.                          

 

Karl-H. Walloch

 

 

Kurz notiert

Im Abgrund kann man nur überleben, wenn man die Höhe glaubt.

 

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Ein Hauch Senilität ist jeder Weisheit eigen.

 

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Es gibt auch eine Zwangsvorstellung des Paradieses.

 

 

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Resignation ist der Kater der Illusionen.

 

*

 

Der innere Motor vieler Menschen ist ein Antrieb der Leere.

 

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Rausch ist Atempause der Vernunft.

 

Norbert Büttner

 

 

 

Der »Rote Kalif von Córdoba«

Am 16. Mai verstarb im Alter von 78 Jahren der in Fuengirola in der Provinz Málaga geborene kommunistische Politiker Julio Anguita González. Für seine Freunde war er wegen seiner politischen und konsequenten Haltung der »Rote Kalif von Códoba«.

 

Von 1979 bis 1986 war er Bürgermeister der Stadt Córdoba, von 1988 bis 1998 Generalsekretär der Partido Comunista de España (PCE) und von 1989 bis 1999 Koordinator der Izquierda Unida (IU; Vereinigte Linke).

 

Julio Anguita zeichnete sich durch seine Prinzipientreue, Bescheidenheit und großes Wissen aus. Im Jahr 1972, noch während der Diktatur von Franco, war er der illegalen PCE beigetreten. Später machte er als Bürgermeister von Córdoba die Erfahrung, wie schwer eine Zusammenarbeit mit der Partido Socialista Obrero Español (PSOE) ist. Seinem Engagement ist es zu verdanken, dass sich linkssozialistische Kräfte zur Vereinigten Linken bündelten, die er 1989/90 als Abgeordneter im spanischen Parlament vertrat.

 

Der Politik des Ministerpräsidenten Felipe González (PSOE) stellte sich Julio Anguita klar entgegen, lehnte die Privatisierungen von Staatsbetrieben ab. Ebenso verurteilte er den schmutzigen Geheimdienstkrieg gegen die Befürworter einer Sezession der Basken und Katalanen. Bereits 2015 warnte Julio Anguita vor der Katalonien-Politik des damaligen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy (Partido Popular). Politische Abgrenzungen kamen nach dem Tod von Julio Anguita kamen nur von der profaschistischen VOX-Partei.

 

khw

 

 

Vaterland, arg dezimiert

»Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein, / Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!« Textsicher sang die Enkelin alle Strophen von »Die Wacht am Rhein«, diesem »deutschen Volks- und Soldatenlied« aus dem Jahr 1854, noch heute oberhalb von Rüdesheim im Rheingau den Sockel schmückend, von dem aus Germania monumental ihr Schwert nach Westen erhebt, in Richtung des Erbfeindes. Der Großvater, der dem Mädchen gerade die Haare schnitt, fiel aus allen Wolken. Ab da war es mit dem beschaulichen, zufriedenen Leben des Friseurmeisters vorbei. Das Vertrauen in seinen Sohn und dessen Rechtschaffenheit schwindet rapide, und bitter wird die Erkenntnis, dass sich im »Toten Winkel« der Familie, dort wo man nicht so genau hinschaut und nichts hinterfragt, Rechtsterrorismus breitgemacht hat. Der NSU stand Pate.

 

Dieser sehenswerte, kompromisslose, spannende Fernsehfilm in drastischen Bildern des Regisseurs Stephan Lacant aus dem Jahr 2017 wurde am 13. Mai im »Ersten« gesendet, immerhin um 20.15 Uhr.

 

Vaterland! Zufällig hatte ich an jenem Tag das »Spruchwörterbuch« zur Hand, eine Sammlung deutscher und fremder Sinnsprüche, Wahlsprüche, Inschriften, Grabsprüche, Sprichwörter, Aphorismen, Epigramme – 1069 kleinbedruckte Seiten umfassend. Der Herausgeber Franz Freiherr von Lipperheide, hat das Erscheinen der Originalausgabe im Jahre 1907 nicht mehr erlebt.

 

Ich schlage »Vaterland« auf. Zehn Spalten führen auf über fünf Seiten das Stichwort in 7 Punkt kleiner Schrift, bis zu »Vaterlandswohl«, »oberstes Gesetz und höchste Richtschnur für alle Parteien« (von Bismarck).

 

Dann greife ich zu den »Geflügelten Worten«, 1980 im VEB Bibliographisches Institut Leipzig erschienen. Ganze 15 Zitate sind zu finden, inklusive »Vaterländischer Krieg« und »Vaterlandslose Gesellen«.

 

Und was sagt das Pendant, die »Geflügelten Worte« des Georg Büchmann, dieser »Zitatenschatz des deutschen Volkes«, erstmals 1864 erschienen? Meine 33. Auflage stammt aus dem Jahre 1981, Verlag Ullstein. Ich finde immerhin 20 Zitate. Auch hier setzen die »Vaterlandslosen Gesellen« den Schlusspunkt. Ich kann es zwar nicht nachprüfen, bin mir aber sicher: In 150 Jahren ist viel abgespeckt worden.

 

Kann da das Vaterland noch ruhig sein, so arg wie es gerupft und dezimiert worden ist?                           

 

K. N.

 

 

Die Otto-Krone

Nun krönt den Neubau des Preußenschlosses in Berlin Stadtmitte die Inschrift, die der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. einst festlegte: »Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters.« Diese mehr als umstrittene Inschrift gegen den Forschergeist eines Alexander von Humboldt an dem Bau, der seinen Namen – Humboldt Forum – trägt, zeigt das geistige Niveau der Schlossneuerbauer. Für Kreuz und Kuppel samt Inschrift kamen 15 Millionen an Spenden zusammen. Allein Inga Otto, die dritte Ehefrau des 2011 verstorbenen Versandhausgründers Werner Otto, stiftete aus ihrem Erbe für Krone, Kreuz und Inschrift eine Million Euro. Auf dem Reichsapfel ließ die 79 Jahre alte Otto-Witwe hinzusetzen: »Im Gedenken an meinen Mann Werner A. Otto 1909–2011. Inga Maren Otto.« Was für ein Schnäppchen!               

khw

 

 

Widerstand mit Klassik

»Geigentöne statt Kriegsgedröhne«, »A-Moll statt A-Müll« oder »Aufspielen statt Abschieben«. Mit diesen und anderen phantasievollen Wortspielen als Motto agiert die Gruppe »Lebenslaute« inzwischen länger als 30 Jahre. Sie lässt überall dort klassische Musik erklingen, wo sich politischer Protest formiert. Jahr für Jahr musizieren und singen die locker vernetzten Lebenslauten in großer und kleiner Besetzung gegen lebensfeindliche Politik und Gefahren an. Dafür sind die Hobby- und ProfimusikerInnen 2014 mit dem Aachener Friedenspreis geehrt worden.

 

Bei ihren Auftritten setzen sie bewusst auch auf Aktionen gewaltfreien zivilen Ungehorsams, die sie basisdemokratisch im Konsens planen und neben ihren Orchester- und Chorproben akribisch vorbereiten. Spektakulär war ihre »musikalische Inspektion« im August 2009, als nach einem Konzert in der Dannenberger Johanniskirche 120 MusikerInnen mit ihren Instrumenten die vier Meter hohe Mauer um das geplante Atommüll-Endlager in Gorleben überstiegen. Unter den Augen und Ohren der überraschten Polizei gaben sie auf dem Gelände ein ungenehmigtes Open-Air-Konzert: »A-Moll statt A-Müll«. Der Beifall vieler ZuhörerInnen feierte sie von der anderen Seite der Mauer, die im Rahmen der Energiewende inzwischen abgerissen worden ist.

 

»Lebenslaute« hat ihre Interventionen jetzt in einem großformatigen Buch dokumentiert mit dem Titel: »Widerständige Musik an unmöglichen Orten«. Mehr als 30 AktivistInnen erinnern sich in kürzeren und längeren Texten an ihre Konzerte und Begegnungen, ihre Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste. Die Texte sind subjektiv und vielfach so anrührend geschrieben, dass sie dem Leser ein Lächeln ins Gesicht zaubern. So entfaltet sich die besondere Wirkung der lebenslauten Musikanten auch beim Stöbern in den liebevoll gestalteten und reich bebilderten 250 Seiten ihres Buches. Eine beiliegende DVD erweckt einige Aktionen in Kurzfilmen zum Leben und macht sie hörbar.

 

Abgedruckt sind auch Faksimiles historischer Dokumente. 1994 schreibt zum Beispiel eine Aktivistin an die Polizei: »Da diese Aktion, die nicht auf Eskalation angelegt ist, viele Menschen anziehen wird, besonders auch Kinder, möchten wir Sie bitten, Ihre Einsatzkräfte so zurückhaltend wie möglich einzusetzen. Darüber hinaus möchten wir vermeiden, dass es zu unschönen Szenen im Umgang mit den Instrumenten kommt. Viele der TeilnehmerInnen sind ProfimusikerInnen und leben von ihrem Instrument.«

 

Das »Lebenslaute«-Herausgeberteam – Gerd Büntzly, Hedwig Sauer-Gürth, Katja Tempel, Andreas und Sabine Will – hat ein faszinierendes Kaleidoskop komponiert, ihm ist eine ganz besondere Chronik des außerparlamentarischen Protestes in Deutschland seit 1986 gelungen. Damals hat »Lebenslaute« die Sitzblockaden der Friedensbewegung erstmals mit einer »Konzertblockade« in Mutlangen unterstützt, um vor der Militärbasis ein Zeichen gegen die Pershing-II-Atomraketen zu setzen, die dann im Rahmen des zwischen der UdSSR und den USA abgeschlossenen INF-Abrüstungsvertrages verschrottet wurden.

 

Und falls immer noch jemand zweifeln sollte, dass lebenslaute Musik Wirkung entfalten kann, der lese »Die Schneeflocke«. Katinka Poensgen hat diese ihre »Lieblingsgeschichte« an das Ende ihrer Erinnerungen an ein Konzert 2011 im Leipziger Flughafen (»Piano und Forte statt Kriegstransporte«) gestellt: ›Da fragt die Meise die Taube, wie viel eine Schneeflocke wiegt. Nicht mehr als ein Nichts, antwortet die Taube. Da erzählt ihr die Meise, wie sie einmal die Schneeflocken zählte, die auf einen Tannenzweig fielen – und als die dreimillionensiebenhundertundvierzigtausendneunhundertdreiundfünzigste Flocke niederfiel, nicht mehr als ein Nichts, brach der Ast ab.‹ Damit flog die Meise davon – und die Taube, seit Noahs Zeiten Spezialistin in dieser Frage, sagte sich nach kurzem Nachdenken: Vielleicht fehlt nur die Stimme eines einzigen Menschen zum Frieden in der Welt.«                     

 

Rainer Butenschön

 

Lebenslaute (Hg.): »Widerständige Musik an unmöglichen Orten. 33 Jahre Lebenslaute«, Verlag Graswurzelrevolution, 249 Seiten und DVD, 25 €

 

 

 

Der »Kruso«-Sound

Alles ist anders, steht Kopf, ist möglich. Die Eltern, die jahrzehntelang brav und ein bisschen spießig in Gera lebten, brechen sofort nach dem Mauerfall auf in eine unbekannte Welt, in der sie sich durchbeißen. Carl, der Sohn, landet in Berlin in einem »Rudel« anarchistischer Hausbesetzer. Sie träumen und organisieren. Sie haben ihre eigenen Gesetze und Werte. Carl kann mauern und kellnert in einer Untergrundkneipe, aber wichtiger für ihn: Er dichtet, mit hohen Ansprüchen und Phasen von Minderwertigkeitsgefühlen. Dann taucht Effi auf, und die Liebe scheint perfekt. Nicht lange. Auch im »Rudel« kriselt es.

 

Ich konnte das Buch nicht weglegen. Vom ersten Roman Seilers kennt man den »Kruso«-Sound: Sprachmächtig, geheimnisvoll, detailverliebt, voller Spannung und Rätsel. Ein Lyriker, der dicke Romane schreibt. Das ist keiner der üblichen Nachwenderomane, sondern ein Hohelied auf Freiheit, Unabhängigkeit, Kreativität. Auch Solidarität und der (illusionäre) Wunsch nach Wandel spielen eine Rolle. Selbst die Eltern kehren vielleicht zurück und Ziege Dodo kommt in den Tierpark.          

 

Christel Berger

 

 

Lutz Seiler: »Stern 111«, Suhrkamp, 391 Seiten, 24 €

 

 

Der Korpsgeist der Justiz

Conrad Taler braucht man den Ossietzky-Lesern nicht vorzustellen. Seit vielen Jahren ist er ihnen als regelmäßiger Autor zahlreicher wichtiger Beiträge bekannt. Immer wieder hat er auch durch Buchveröffentlichungen auf sich aufmerksam gemacht.

 

Bereits im Jahr 2002 erschien sein Band »Zweierlei Maß«. Hier untersucht er zunächst den Umgang der bundesdeutschen Justiz mit nazibelasteten Richtern und kommt zu dem erschreckenden Resümee, dass kein einziger von ihnen letztlich zur Verantwortung gezogen wurde. Geschickt haben es Berufskollegen von ihnen verstanden, die Hürde für die Erfüllung des Tatbestandes der Rechtsbeugung so hoch zu legen, dass selbst Richter, die an Todesurteilen mitwirkten, darunter hinwegglitten. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch ein gewisser Korpsgeist dabei eine Rolle gespielt haben muss. Selbst als sich das Landgericht Berlin 1967 anschickte, den früheren Richter Hans-Joachim Rehse wegen Beihilfe zum Mord und versuchtem Mord zu fünf Jahren Zuchthaus zu verurteilen, sorgte der Bundesgerichtshof in der Revisionsinstanz für die Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Im Mittelpunkt der Betrachtung stand, ob der Richter mit bestimmtem Vorsatz das Recht gebeugt habe, als er als Beisitzer im ersten Senat des Volksgerichtshofs unter Otto Georg Thierack und dem berüchtigten Roland Freisler an der Verhängung von 231 Todesurteilen mitwirkte, wovon nur ein kleiner Teil Gegenstand des Verfahrens war. Das Landgericht Berlin sprach Rehse in einem zweiten Urteil von jeglicher Schuld frei, da es keinen Nachweis für ein bewusstes unrichtiges Anwenden des Rechts habe finden können. Als sich die Staatsanwaltschaft jetzt gegen dieses Urteil vom 6. Dezember 1968 im Wege einer erneuten Revision an den Bundesgerichtshof wandte, kam es nicht mehr zu einer Entscheidung, da Rehse 1969 starb. Sein Fall kann aber als geradezu exemplarisch für das Scheitern der deutschen Justiz bei der Strafverfolgung von Nazirichtern gelten. Sie verfügten spätestens jetzt und fortan über ein Privileg.

 

Im zweiten Teil seines Buches stellt Taler dem die juristische Kriminalisierung von DDR-Richtern und -Staatsanwälten nach dem Anschluss der DDR 1990 durch die bundesdeutsche Justiz gegenüber. Dabei arbeitet er heraus, dass der Umgang mit diesen ein völlig anderer war. Hier zeigte man sich unerbittlich und war von deutlichem Verfolgungsinteresse geprägt. Man könnte fast annehmen, dass es auf diese Weise darum gehen sollte, das frühere Versagen nunmehr ins Gegenteil zu verkehren. Jetzt waren die Anforderungen an die Erfüllung des Tatbestandes der Rechtsbeugung bei weitem nicht mehr so streng formalistisch in der Betrachtung und wurde viel eher angenommen, dass der DDR-Richter mit Vorsatz gehandelt und Recht gebeugt habe. So erklärt sich auch der Titel des Buches, weil sich zeigt, dass der Gradmesser ein ganz unterschiedlicher war. Während bei den einen die äußeren Umstände – »Verstrickung« in die Naziideologie und ein fanatischer Glaube – zugute-gehalten wurden, wurde den anderen nicht zugebilligt, in einem inzwischen nicht mehr existierenden Staat das dort geltende Recht angewandt zu haben, welches sich von dem der Bundesrepublik zumindest in Teilen unterschied.

 

Talers Buch hat jetzt nach 18 Jahren eine zweite Auflage erfahren und ist nach wie vor zu empfehlen, vor allem einer jüngeren Generation, die beide beschriebenen Zeitepochen nicht miterlebt hat. Der Autor hält der Justiz den Spiegel vor und wirft zu Recht Fragen auf, die auch künftige Juristengenerationen zumindest in der Ausbildung noch beschäftigen sollten.

 

Ralph Dobrawa

 

 

Conrad Taler: »Zweierlei Maß«, PapyRossa Verlag, 190 Seiten, 14,90 €

 

 

Liebes Kind!

Der Buchverlag Der Morgen edierte 1966 und 1988 »Maud von Ossietzky erzählt«. Die Ausgabe aus dem Jahre 1988 begleitet mich bis heute. Es ist eine der Lektüren, die man nicht auf einen Zug durchliest, sondern die einem von Zeit zu Zeit »begegnen« – wenn man etwa den häuslichen Buchbestand durchforstet, weil man eine Information braucht – und in denen man sich dann festliest.

 

Es ist nicht eine überragende literarische oder sprachliche Qualität der Memoiren der Ehefrau Carl von Ossietzkys, sondern es ist das, was ehrlich und unprätentiös geschildert wird: die Geschichte einer Liebe und einer keinesfalls krisenfreien Ehe zwischen Menschen, die unterschiedlicher nicht sein konnten und sich doch glichen. Sonst hätten sie nicht miteinander leben und sich lieben können in den fast immer dunklen Jahren zwischen 1913 und dem 4. Mai 1938. Darum vielleicht sind die Schilderungen der Glücksmomente so bewegend.

 

Maud, Tochter eines englischen Offiziers, geboren 1888 in Indien, kam nach dem frühen Tod ihrer Eltern nach England, wo sie von einer Tante nach aristokratischen Regeln erzogen wurde. Dazu gehörte die Orientierung auf eine »gute Verheiratung«. Aber während eines Deutschlandaufenthalts verliebt sie sich in Ossietzky, man heiratet in England, wobei Ossietzky während der Trauzeremonie die Ringe aus der Hand fallen. Seinen Eltern hatte er den Zweck der Reise verschwiegen, was das Verhältnis zwischen ihnen und dem jungen Paar belastete.

 

Breiten Raum im Buch nimmt Die Weltbühne ein, für die Ossietzky seit 1926 die Leitartikel schrieb. Nach dem Tod von Siegfried Jacobsohn im gleichen Jahr wurde Ossietzky verantwortlicher Redakteur unter Tucholsky, dann bald, da jener wenig Lust dazu bezeigte, »Leiter« der Weltbühne. Die Blicke ins Innere der Redaktionsstuben gehören zum Interessantesten des Buches. Das Eheleben wurde aber nun von der Weltbühne bestimmt, reichlich Freizeit oder Urlaub gab es für das Paar nicht. Doch in der Arbeit erwuchs die Substanz des Lebens, die Maud von Ossietzky suchte. Sie ruhte und rastete nicht, bis sie nach dem Zweiten Weltkrieg die Zeitschrift wieder herausgeben konnte, wozu man im besetzten Berlin Lizenzen brauchte, und da sie sich mit ihren »Landsleuten«, den Engländern, nicht einigen konnte, erhält sie eine sowjetische. »Die Weltbühne erschien jetzt wieder, mein Leben hatte wieder einen Sinn bekommen.« So resümiert sie auf Seite 146, und in diesen schlichten Worten spiegeln sich der Stolz und der Wille einer Frau, die ihrem Mann Gefährtin und Kameradin war.

 

Im Buch teilt Maud von Ossietzky auch Briefe Carls oder Einträge im »Erinnerungsbuch« mit, welches das Ehepaar führte. Eines fällt auf: Sie ist immer die »liebste Maudie«, das »Sorgenkind«, das »liebe Kind«, die »Maus«, die »liebe, kleine Frau«. Nun war besonders die Floskel von der lieben, kleinen Frau noch in den fünfziger Jahren sehr im Schwange. Mein Vater redete in Briefen, die er ins Krankenhaus sandte, meine Mutter nur so an. Und offenbar hat es ihr behagt. Haben Männer damals gern den Beschützer ihrer Frauen herausgekehrt? Oder war es ein Versuch auch der Verkleinerung? Ein Foto auf Seite 145 zeigt die Herausgeber Maud von Ossietzky und Hans Leonhard 1948 in der Weltbühne-Redaktion, Berlin W 8, Mohrenstraße 36–37. Da sitzt eine selbstbewusste Frau, eine Chefin, im Sessel, offenbar ein Manuskript prüfend.

 

Das Buch Maud von Ossietzkys ist übrigens antiquarisch immer noch zu haben.                      

 

 Albrecht Franke

 

 

Zuschriften an die Lokalpresse

Nach wie vor imponieren mir die fast allen Tagen des Jahres offiziell beigegebenen Empfehlungen wie »Tag des Lächelns« oder »Tag der Vielfalt«. Dagegen waren die Versuche aus DDR-Zeiten wie »Tag des Eisenbahners«, »Tag des Friedens«, »Tag des Aktivisten« (der übrigens mit dem Geburtstag meiner Mutter zusammenfiel), »Tag des Lehrers«, »Tag des Kindes«, »Tag der Werktätigen des Bereiches der haus- und kommunalwirtschaftlichen Dienstleistungen« klägliche Versuche. Wenn ich mich richtig erinnere, blieb da noch manche Lücke zu füllen. Das ist heutzutage anders, da fallen manchmal mehrere Denkwürdigkeiten auf denselben Termin, und es drängt sich die Überlegung auf, ob man den Tag vielleicht zweiteilen sollte, um alles Würdigenswerte unterzubringen. Und dann kommt noch etwas dazu: Manchmal ist es schwierig, die historischen oder personellen Umstände des Zustandekommens einer Tagesehrung zu ermitteln. Umso erfreulicher, wenn man sich darüber bei digitalen Informationsdienstleistern oder in den Medien klug machen kann. Manchmal wird die Neugier allerdings nicht restlos befriedigt. So erging es mir neulich mit dem »Internationalen Tag des Handtuches«. Da fand ich in der Märkischen Allgemeinen vom 26. Mai auf der havelländischen Regionalseite den Hinweis, dass der »Towel Day« zu Ehren des britischen Schriftstellers Douglas Adams eingeführt wurde, der in seiner fünfteiligen Trilogie »Per Anhalter durch die Galaxis« das Handtuch für das so ziemlich Nützlichste bei Reisen durch die Galaxis hält. Wer könnte mir folgende offene Fragen beantworten: Erfolgte die Entdeckung des Handtuches gleichzeitig mit der Erfindung des Toilettenpapiers? Ist Handtuchhersteller ein systemrelevanter Beruf? Gibt es in dieser Branche Corona-Sonderzahlungen? Wenn nein, könnten sie noch ins Konjunkturpaket aufgenommen werden? Wie viele Handtücher führen Astronauten derzeit bei ihren Reisen ins All mit? – Fridegund Säuberlich (61), Kaltmamsell, 49838 Handrupp

 

*

 

Nun liegt Pfingsten schon wieder ein paar Tage hinter uns, und wir hetzen atemlos dem Advent entgegen. Da die Konversation infolge unserer coronären Vermummung diesmal etwas beschwerlich war – hinzu kam bei mir ein altersbedingter Unterkieferausfall –, habe ich mich intensiver der feiertäglichen Lektüre hingegeben. So erfuhr ich aus der Wochenendausgabe der Schweriner Volkszeitung, dass Pfingsten von der griechischen Vokabel »Pentakoste« hergeleitet wird, was auf den 50. Tag nach Ostern hinweist. Das hatte ich glatt vergessen. Da sollen laut Bibel die Freunde von Jesus in Jerusalem eine Party veranstaltet haben, als plötzlich ein Sturm aufkam und ein wundersames Feuer entfachte, das alle Anwesenden stante pede befähigte, sich plötzlich in allen Sprachen zu verständigen! Welch Hoffnungsschimmer! Diese Vielfalt wäre an den diesjährigen Pfingsttagen allerdings kaum eingetreten, denn bei uns sprechen alle sowieso mit englischem Sound, was durch den dämpfenden Mundschutz noch etwas unverständlicher geworden wäre. Außerdem hätten die Quarantäneauflagen eine solche Massenansammlung noch nicht wieder zugelassen.

 

Die Sternberger Regionalpresse verkündete noch weitere spannende Neuigkeiten. So warnte der Mime Kostja Ullmann, der ausgerechnet Pfingsten sein 36. Wiegenfest abfeierte, die Wochenendurlauber davor, im Auto Sex zu betreiben. Er habe es selbst ausprobiert. Es war »kalt und unglaublich unbequem«, verkündete er auf der Titelseite. Wahrscheinlich hatte er sich dazu einen Trabi ausgeliehen, weil er die Erhöhung der Förderung für Elektroautos nicht abwarten konnte. Im »Familien-Magazin« derselben Ausgabe wurde berichtet, dass Model und Moderatorin Sylvie Meis in der Talkshow »Mit den Waffeln einer Frau« erklärt habe, nie wieder den Nachnamen eines Mannes anzunehmen. Recht so, Meisje! Man darf die Emanzipation auch nicht untertreiben! Spannend fand ich auch die Nachricht in der Ausgabe, dass die Polizei in Dorsten eine Wohnung stürmte und den falsch ausgemachten Täter fixierte. Dieser war gerade dabei, seiner zweieinhalbjährigen Tochter eine Wassermelone mundgerecht aufzuschneiden, worauf sich die Beamten für die Störung allerdings entschuldigten. Da hat er nochmal Glück gehabt! – Wolfgang Helfritsch, Rentner und traditioneller Zeitungsleser, 10365 Berlin                         

 

Wolfgang Helfritsch