Seltsam. Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht – mir geht es jedenfalls so. Nicht immer, aber immer öfter. Vielleicht hängt es mit dem Alter und der Lebenserfahrung zusammen.
Ich höre oder lese eine alarmierende Nachricht, da schlängelt sich tief aus meinem Hinterkopf eine Erinnerung hervor, irgendein vergessenes, unbedeutendes Detail drängt sich nach vorn ins Großhirn.
Vielleicht ist diese Darstellung anatomisch nicht korrekt. Wer weiß schon, was genau in seinem Inneren vorgeht? Das wissen neuerdings andere viel besser als man selbst. Vielleicht sollte ich es so sagen: Auf der persönlichen Festplatte wird unversehens ein Bild heruntergeladen, die auf den ersten Blick nichts mit der aktuellen Nachricht zu tun hat. Gestern waren es gleich zwei Informationen, die ein solches Bild auslösten.
Zuerst war es der Rüstungsbericht 2007 des Stockholmer Rüstungskontrollinstituts (SIPRI), nachzulesen in manchen, durchaus nicht in allen Tageszeitungen. Die meisten möchten ihre Leser damit nicht behelligen. Schon gar nicht während der Fußball-Europameisterschaften. Die Kernaussage: Die internationalen Militärausgaben haben einen neuen Spitzenstand erreicht, und Deutschland gehört zur Spitzengruppe der daran Beteiligten – obwohl der Kalte Krieg angeblich 20 Jahre zurückliegt.
Und dann war es die Nachricht, daß meine Bundesrepublik nach anfänglicher Zurückhaltung eine schnelle Eingreiftruppe in den heißen Süden Afghanistans entsendet. Deutschland, so wurde begründet, könne nicht weiter zusehen, wie andere für unsere Freiheit die Kastanien aus dem Feuer holen oder die Weiße Elster und die Wilde Kirnitzsch am Hindukusch verteidigen. Der erstaunlicherweise immer noch als Verteidigungsminister betitelte Herr Jung machte, ehrlich, wie er nun mal ist, keinen Hehl aus der Gefährlichkeit der Einsätze. Todesopfer seien nicht auszuschließen.
Wir Deutschen, das ist sicher, werden dann die Feldgrauen, so sie denn in mit Hoheitszeichen geschmückten Zinksärgen in ihre Heimat zurückkehren, zutiefst betrauern. Sind Opfer schon nicht vermeidbar, sollen sie wenigstens geehrt werden.
Beim Verarbeiten dieser Nachrichten kam mir das folgende Bild in Erinnerung: Ich sah vor meinem geistigen Auge plötzlich das Schlafzimmer meiner Großmutter, und auf dem alten Kleiderschrank neben dem hohen hölzernen Bett stand eine ganze Batterie von Weckgläsern mit eingekochten Erdbeeren. Die liebte mein Onkel Walter besonders.
Aber woher sollen Sie wissen, wer mein Onkel Walter war und was er mit meinem Bild zu schaffen hat. Da bin ich Ihnen eine Erklärung schuldig.
Also, mein Onkel Walter war der kleine Bruder meiner Mutter und das jüngste von drei Kindern meiner Großmutter. Onkel Walter hatte natürlich auch einen Vater, aber beide konnten einander kaum begegnen, denn als Onkel Walter 1915 zur Welt kam, war sein Vater Hermann ein Jahr zuvor mit einem Sträußchen im Karabiner an die Front abgedampft. Mein Großvater war übrigens ein Blumenliebhaber und malte mit Leidenschaft Stilleben. Mehrere seiner Ölgemälde, vor allem mit bunten Feldblumen, hingen bis zum Tode meiner Großmutter noch auf ihrem Flur, aber das nur nebenbei.
Als der Großvater im Gegensatz zu vielen anderen von der Front zurückkehrte, hatte er außer seinem noch gut zu verwendenden Feldgeschirr auch die Malaria im Gepäck. Die hat ihn nach dem Krieg an der Heimatfront dahingerafft, nachdem er der Familie noch einige Jahre als Pflegefall angehört hatte.
Großmutter Emma stand dann als Kriegerwitwe mit drei Kindern allein. Das war hart. Erst die Kriegs- und Nachkriegsjahre, dann die Inflation. Die »Goldenen Zwanziger« machten einen Bogen um ihre Postanschrift. Sie verdiente den Familienunterhalt als Heimarbeiterin, genauer gesagt, als Nopperin. Einmal wöchentlich, ich glaube, mittwochs, holte sie von einer der örtlichen Webereien Stoffballen ab, die sie dann mit einem Handwagen die steil ansteigende Pohlitzer Straße hinauf in ihre Wohnung beförderte. Überwiegend in Nachtarbeit – tagsüber verlangten die Kinder ihr Recht – wurden die Stoffe mittels einer Pinzette von den Fäden befreit, die sich nach der Herstellung noch im Tuch verbargen.
Können Sie sich übrigens vorstellen, wie sie dafür entlohnt wurde? Nein, niedriger. Und der magere Lohn wurde noch gekürzt, wenn der betriebliche Kontrolleur den einen oder anderen übersehenen Faden zwischen den Stoffballen fand. Und das kam immer häufiger vor, je schwächer ihre Augen wurden.
Aber irgendwie gelang es ihr, die Kinder großzuziehen. Die Tochter, also meine Mutter, genoß zwar nach der Volksschule keine Berufsausbildung, das gab der Familienetat nicht her, aber als sie in einer Greizer Textilfabrik eine Näherinnenstelle erhielt, reichte es für den zweitgeborenen Sohn Kurt zu einer Buchhalterlehre. Eigentlich sollte der gute Schüler durch den Besuch des Lyzeums zu einem noch besseren Lehrer werden, aber meine Großmutter konnte sich nicht dazu entschließen, den Freiplatz anzunehmen. »Nee, nee«, soll sie gesagt haben, »das kommt net in Fraache! Für Schullehrer sinn mir net de Leut‘ dazu!«
Und nun kommen wir wieder auf den Jüngsten, auf meinen besagten Onkel Walter zurück. Der erlernte den geachteten Beruf eines Elektrikers und wurde zum Stolz seiner Mutter ein begehrter Handwerker. Er war sportlich, ein Mädchenschwarm und hätte es im Leben sicher zu mehr gebracht, wenn sich das Vaterland nicht wieder einmal, diesmal fast auf dem halben Planeten, seiner Feinde und Neider hätte erwehren müssen. Onkel Walter wurde einberufen, kam nach Polen und zur Kavallerie, und er erhielt bereits wenige Wochen nach Kriegsausbruch sowohl eine Beförderung als auch einen Bauchschuß. Wenige Tage später endete sein Leben in einem Feldlazarett.
Ich war dabei, als meine Großmutter den Brief mit der Todesnachricht mit dem Küchenmesser und zitternden Händen aufschlitzte. Als knapp Fünfjähriger konnte ich noch nicht alles begreifen, was zu begreifen war. Aber ich habe noch vor Augen, wie sie stumm die Hände vors Gesicht schlug und in der Küche aufs Sofa sank. Mein Versuch, ihr die Hände vom Gesicht zu ziehen, mißlang.
Seit diesem Tage, bis an ihr Lebensende, trug meine Großmutter schwarze Kleidung. Und seitdem kommentierte sie jedes Glas eingeweckte Erdbeeren, das sie sonntags nach dem Mittagessen auf den Tisch stellte, mit den Worten: »Das war eigentlich noch für unseren Walter, wenn er auf Urlaub kommt!« Das hatte sich nun erledigt. Aber dieses Zeremoniell wiederholte sich, solange noch Gläser mit eingewecktem Obst auf dem Schlafzimmerschrank standen.
Dieser Satz prägte sich mir ein, und ich war damals, Anfang der 40er Jahre, als solche Delikatessen wie eingeweckte Erdbeeren eine Rarität waren, fast eifersüchtig auf meinen Onkel, der von einem Foto an der Wand, stolz und lächelnd auf einem Pferd sitzend, mit gespornten Stiefeln, flotter Reithose und entblößtem Oberkörper zusah, wie wir seine Erdbeeren vernaschten.
Daneben hing noch ein anderes Foto, auf dem Onkel Walter nicht leiblich zu sehen war. Das Bild zeigte ein großes hölzernes Grabkreuz mit den Namen mehrerer gefallener junger Soldaten, aber den besten Platz auf dem Holz nahm mein Onkel ein, der posthum zum Unteroffizier beförderte Walter Perthel. Die anderen hatten es nur bis zum Obergefreiten gebracht.
Seltsam, was einem bei bedeutungsvollen aktuellen Nachrichten so plötzlich einfallen kann. Ich wäre nie darauf gekommen, daß ein Zusammenhang zwischen Afghanistan, meinem Onkel Walter und eingeweckten Erdbeeren besteht.