Die gelbe Tür trennt den öffentlichen Bereich des Museums von dem der Verwaltung, den dort fest Angestellten. An der Tür liest man von oben nach unten: Direktion, Bibliothek, Archiv.
Die gelbe Tür hat eine eigene Aufsicht. Diese ist zwar auch für den Raum daneben verantwortlich, und wenn der weiter links stehende Kollege Pause macht, dehnt sich ihr Verantwortungsbereich sogar auf vier bis fünf Räume aus; aber ihr Augenmerk gilt immer der gelben Tür.
Morgens zu Beginn der Arbeitszeit muß man die der gelben Tür gegenüberliegenden Notausgänge aufschließen. Dazu muß man vorher die Alarmzentrale anrufen, damit diese das Alarmsignal ausschaltet. Manche melden sich mit »Hier gelbe Tür, ich öffne jetzt«. Die anderen Aufsichten sprechen ähnlich: »Ich bin ab nächste Woche die gelbe Tür.« Kein »bei«, »an«, »vor« sorgt für Distanzierung.
Obwohl die Angestellten auf der Rückseite des Gebäudes einen eigenen Eingang haben, benutzen einige gern morgens, mittags oder abends diese Tür. Manche auch öfters, wenn es ihre Arbeit erfordert, die sie in den öffentlichen Bereich führt. Nur die untere Kaste hat einen Schlüssel: Hausmeister oder Sicherheitsleute. Ob die höheren Ränge einen haben, ist unbekannt. Sicher ist: Wenn sie einen haben, wollen sie ihn nicht benutzen.
Manche hassen diesen Job, andere finden ihn kurzweiliger, als nur auf die Kunst aufzupassen. Schmackhaft wird einem diese Aufgabe jedes Mal damit gemacht, daß man dann die wichtigen Leute kennen lerne; vielleicht wirke sich das positiv auf eine mögliche Vertragsverlängerung aus.
Für einen Neuling ist die Aufgabe schwer: Er muß erkennen, ob derjenige, der sich von links oder rechts durch die Museumsräume der Türe nähert, ein Besucher oder ein Angestellter ist. Verwechselt der Türwächter Besucher und Angestellte, entsteht Konfusion. Denkt er, der Besucher sei ein Angestellter, rennt er zur Tür, steht dort, reißt sie auf, denn auch das gehört zu der Aufgabe, und stellt dann fest, daß er sich umsonst beeilt hat. Der Besucher mag ihn nur komisch anschauen, vielleicht überlegt er, ob er die Chance ergreifen soll, in diesen Bereich, den ein »Zutritt verboten« schützt, eindringen soll. Doch er will nicht zur Direktion.
Umgekehrt ist es schlimmer. Läßt die Aufsicht einen vermeintlichen Besucher, der ein Angestellter ist, zu nahe kommen, schafft sie es nicht mehr, vor ihm an der Tür zu sein. Bestenfalls führt ihr eine freundliche Frage »Haben Sie den Schlüssel?« die eigene Unfähigkeit vor Augen, schlimmstenfalls wird die Frage mit einem eiligen, ins Mißbilligende wechselndem Blick verstärkt, der der Aufsichtskraft unzweideutig klar macht, daß sie für diese Aufgabe nicht qualifiziert genug ist.
Doch mit der Zeit bekommt man einen Blick für die geschäftig dahin eilenden Angestellten, die sich von gelangweilt herum schlendernden, aber auch vor der versammelten Kunst erstaunt nervösen Besuchern unterscheiden.
Man kann nie früh genug damit beginnen, den Schlüssel aus der Tasche zu ziehen, den richtigen in die Finger zu nehmen und aufs Schloß zuzueilen. Der Schlüssel – das ist eine große Hilfe, denn am Schlüsselbund sind noch mehrere – hängt an einem besonderen Ring.
Von der normalen Position – wo die Aufsicht steht und auch Einblick in den mit zu überwachenden Ausstellungsraum hat – sind es fünf bis sechs Schritte bis zur Tür. Die gelbe Tür befindet sich in einem kleineren Durchgangsraum, in den auch ein Treppenaufgang aus dem unteren Stock führt.
Verschiedene weitere Fallen warten auf die Aufsicht: Während sie den Schlüssel aus der Tasche zieht und diesen in die Hand nimmt und zum Türschloß eilt, sind zwei kleinere Treppen zu überwinden, da der Weg zur gelben Tür etwas abschüssig ist. Höchste Konzentration ist erforderlich: rasch den Schlüssel aus der Tasche nehmen, aber nicht so hastig, daß sie die zwei Stufen hinunterfallen könnte, was nicht auszudenken wäre. Dann mit dem Schlüssel genau ins Schloß treffen. Das ist die größte Kunst, denn es kann sein, daß etwa der Direktor mit eiligem Schritt einen schon eingeholt hat, während man noch versucht, sein Zittern zu verbergen. Wegen der Aufregung, der höchsten Konzentration, ist ein leichtes Zittern niemals auszuschließen. Und dann die Kraft sammeln, und die schwere Tür mit einem Schlag weit aufzureißen und Blickkontakt mit dem Angestellten suchen, der in diesem Falle um ein geflüstertes Danke nicht herumkommt.
Auf dieses Danke und den Augenblick sollte man sich nicht zu viel einbilden, es ist schon vergessen. Die subalterne Position der Aufsicht, die aus ihrer düsteren Erstarrung immer höchstens für einen Moment zum Handlanger aufsteigt, läßt eine Würde, wie sie sonst oft mit einer kleinen Höflichkeit anerkannt wird, nicht zu, und Zweck der Handlung ist nicht Höflichkeit, sondern raschestes Türöffnen.
Das Scheitern ist vorprogrammiert, wenn ein Angestellter von unten die Treppe benutzt. Denn die Treppe führt in Richtung gelber Tür, also dreht derjenige, der hochkommt, der Aufsicht den Hinterkopf zu. Erst wenn er sich dreht, und die Aufsicht fragend anschaut, weiß diese, sie ist zu langsam gewesen. Dieses Dilemma ist unmöglich zu lösen, man eilt zur Tür, muß die Treppen beachten, auf Schloß zielen und sollte doch den Angestellten nicht aus den Augen lassen.
Übrigens bin ich noch nie durch die gelbe Tür gegangen, Direktion, Bibliothek und Archiv sind Räume, die eine Aufsicht nicht zu beaufsichtigen hat, die sich also ihrem Blick entziehen. Umgekehrt scheint die gelbe Türe selbst Augen zu haben, die sich auf die Aufsicht richten. Denn auch dies kann geschehen: Die Tür wird von der anderen Seite schlagartig geöffnet, und der Angestellten-Blick fällt auf eine darauf nicht vorbereitete Aufsicht.
Man weiß nicht, welche Gefahr größer ist: einen wichtigen Angestellten zu übersehen, das Öffnen der Tür ungewollt zu verzögern und sich damit zu disqualifizieren, schlimmer noch: dessen Unmut sich zuzuziehen oder durch das plötzliche Aufgehen der Tür einen Blick einzufangen, der einen unvorbereitet trifft – und an die Herrschaft verrät.