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Nazis dürfen nicht durchkommen  (Ulla Jelpke)

In den vergangenen Wochen kamen verschiedentlich Diskussionen auf, ob Blockaden gegen Nazi-Aufmärsche zulässig seien. In Dresden, Berlin, München und anderen Orten war es Antifaschisten mehrmals gelungen, Umzüge von Neonazis durch massenhafte Teilnahme an Blockaden zu verhindern. Angesichts Tausender Antifaschisten aus einem breiten, weit in bürgerliche Kreise reichenden politischen Spektrum, die sich auf Straßen und Plätzen entlang der Aufmarschstrecken versammelt hatten, war die Polizei gezwungen, die Neonazis entweder ganz am Losmarschieren zu hindern oder sie nach kurzer Wegstrecke zum Umkehren zu bewegen.

Aus rechtlicher Sicht sind die erfolgreichen antifaschistischen Blockaden jedoch noch immer umstritten. Schon im Vorfeld des Dresdner Nazi-Aufmarsches hatte die Staatsanwaltschaft Plakate mit dem Blockadeaufruf beschlagnahmen und linke Zentren durchsuchen lassen. »Blockade ist eine Form von Gewalt und damit eine Straftat, egal, wer sie begeht«, warnte Berlins Innensenator Ehrhard Körting (SPD) vor dem 1. Mai 2010. Scharfer Kritik vor allem aus den Reihen der Unionsparteien, aber auch von einzelnen Sozialdemokraten sowie von Sprechern der Polizeigewerkschaften sah sich Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) ausgesetzt, weil er sich am 1. Mai in seinem Wahlkreis Prenzlauer Berg gemeinsam mit Tausenden Berlinern auf die Straße gesetzt hatte. »Herr Thierse sollte sich ernsthaft fragen, wem er mit seiner Sitzblockade geschadet hat – den Neonazis oder unserer demokratischen Rechtsordnung«, empörte sich die Bundesfamilienministerin und selbsternannte Extremismusexpertin Kristina Schröder (CDU) gegenüber der Bild-Zeitung. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) warf Thierse »Arroganz gegenüber dem Staat« vor.

Entzündet hatte sich die Debatte über die Rechtmäßigkeit von Blockaden als Form des zivilen Ungehorsams und gewaltfreien Widerstands in den 1980er Jahren anläßlich der Proteste gegen die »Nachrüstung« der NATO mit »Pershing II«-Raketen. Zahlreiche Nachrüstungsgegner, darunter auch prominente wie Walter Jens, wurden nach gewaltfreien Sitzblockaden vor dem NATO-Atomwaffendepot Mutlangen wegen Nötigung gemäß Paragraph 240 des Strafgesetzbuches verurteilt. Danach macht sich strafbar, wer einen anderen gewaltsam zu einem Handeln oder Unterlassen veranlaßt. Nach damaliger Rechtsauffassung galt schon das passive Sitzen auf der Straße als »Gewalt«, weil bei dem Fahrzeuglenker ein psychische Hemmung ausgelöst werde, den Blockierer zu überfahren: so werde ihm das Anhalten »aufgenötigt«.

Mit einer Grundsatzentscheidung trat das Bundesverfassungsgericht 1995 dieser weiten Auslegung des Gewaltbegriffs entgegen. Die Karlsruher Richter stellten fest, daß es gegen den Bestimmtheitsgrundsatz nach Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes verstoße, psychisches Einwirken als »Gewalt« einzuordnen. Seither gilt, daß allein die Anwendung physischer Gewalt zu einer Strafbarkeit wegen Nötigung führt.

Doch der Bundesgerichtshof hat die Vorgabe des Bundesverwaltungsgerichts und damit die nötige Klarheit wieder unterlaufen. Er kam zu dem eigenartigen Ergebnis, daß der Tatbestand der Nötigung erfüllt sei, wenn mehrere Fahrzeuge blockiert werden. In einem solchen Fall wirke zwar auf den Fahrer des ersten Fahrzeugs nur psychische Gewalt ein, was straflos sei. Aber die nachfolgendem Fahrzeuge würden von dem blockierten ersten Fahrzeug am Weiterfahren gehindert; darin liege, so der BGH, eine physische Gewalteinwirkung und somit eine strafbare Nötigung.

2001 wies dann das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde von Teilnehmern einer Blockade an der Zufahrt zur Baustelle der zeitweilig geplanten Wiederaufarbeitungsanlage für Nuklearbrennstoffe im bayerischen Wackersdorf zurück. Die Blockierer waren wegen Nötigung verurteilt worden, nachdem sie sich untereinander und an den Bauzaun angekettet und damit die auf der Baustelle Beschäftigte daran gehindert hatten, auf das Baugelände zu fahren. Auch Sitzblockaden verbunden mit Einhaken oder aktivem Widerstand gegen das Weggetragenwerden durch die Polizei werden von den Gerichten immer noch als Nötigung angesehen.

Faschistische Parteien können sich auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz berufen. Doch eine Partei wie die NPD müsse eine kritische Auseinandersetzung mit ihrem Agieren hinnehmen, meint der stellvertretende Landesvorsitzende der SPD in Mecklenburg-Vorpommern, Professor Bodo Wiegand-Hoffmeister, in einer vom Internet-Journal Endstation-rechts.de veröffentlichten Debatte über die Zulässigkeit von Blockaden gegen einen Naziaufmarsch am 1. Mai in Rostock. Einen »Aufruf zu einer passiven, friedlichen Blockade, die eine rechtsextremistische Versammlung behindert oder erschwert«, hält der Jurist nach Maßgabe von Art. 5 Abs. 1 GG ausdrücklich für zulässig.

Vergessen wir an dieser Stelle nicht: Die Innenminister, die sich über antifaschistische Demonstranten erregen, sind es schließlich, die die ihnen unterstehenden Polizeibeamten erst in Gewissenskonflikte bringen. Denn mit den von ihnen bezahlten V-Männern der Verfassungsschutzämter in Führungspositionen der NPD verhindern sie, wie das Bundesverfassungsgericht feststellte, bis heute ein Verbot dieser Partei und sichern so die Existenz der NPD. Zudem beeinträchtigen die provozierenden Aufmärsche der NPD am 1. Mai gewerkschaftliche Rechte – schon dadurch, daß viele Gewerkschafter dann ihre vorrangige demokratische Verpflichtung darin sehen, den Nazis entgegenzutreten, so daß sie gehindert sind, an den DGB-Kundgebungen teilzunehmen. Seit eh und je ist es ja Auftrag der Nazis gewesen, die Gewerkschaften zu schwächen.

Unabhängig von der jeweiligen Rechtsprechung ist es moralisch legitim, Faschisten keinen Raum für ihre Aufmärsche zu gewähren. Sie zu blockieren, ist kein Angriff auf die Demokratie, es sollte vielmehr eine Selbstverständlichkeit für alle Demokratinnen und Demokraten sein. Wolfgang Thierse hat das – ebenso wie zuvor in Dresden zahlreiche Politikerinnen und Politiker der Linkspartei – erkannt, und er hat am 1. Mai in Berlin gemeinsam mit Tausenden anderen Antifaschistinnen und Antifaschisten Zivilcourage gezeigt. Damit hat er ein Signal gesetzt, das auch in Zukunft zu Aktionen zivilen Ungehorsams ermutigt. Es sollte immer dann, wenn Faschisten aufmarschieren, unser Ziel sein, durch solche breite demokratische Willensäußerung der versammelten Antifaschisten ein faktisches Verbot der Naziaufmärsche zu erzwingen.