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Was hört man aus Afghanistan?  (Martin Baraki)

Am 11. Februar 2010 begannen NATO-Truppen unter US-amerikanischer Führung eine lange vorbereitete Offensive in der südafghanischen Provinz Helmand, namentlich in den Bezirken Mardchah und Nadeali. Sie setzten, wie Flüchtlinge berichten, Waffen aller Art ein, darunter Panzer, Kampfhubschrauber, Kampfflugzeuge und Drohnen. Sie durchkämmten die Ortschaften Straße für Straße, Haus für Haus und hinterließen Trümmer über Trümmer. 15.000 Soldaten waren daran beteiligt. Wenige Tage später dehnte die US-Luftwaffe die Angriffe auf die Provinz Daikhondie aus, wo sie gezielt Flüchtlinge aus Helmand bombardierte. Am 24. Februar wurde eine zweite Offensive in den Provinzen Paktia und Khost eröffnet. Was hat man in Deutschland bisher darüber erfahren? Selbst in Kabul weiß man fast nichts über den Vernichtungskrieg, der sich inzwischen auch gegen die Provinz Kandahar richtet.

Fast vier Wochen nach den ersten Angriffen wurden zwar im Aryana-TV Klagen über die erbärmliche Lage der Bevölkerung im Kriegsgebiet zitiert, aber kein Medium brachte Bilder von den Zerstörungen in Mardchah und anderen bombardierten Orten. In ganz Afghanistan herrscht Informationssperre. Kein einziger der insgesamt 30 privaten Fernsehsender – als die Taliban regierten, gab es keinen einzigen – traut sich an dieses Thema heran. Die Journalisten stehen permanent unter Aufsicht des Geheimdienstes, der vor allem darauf bedacht ist, sie an unerwünschter Foto- und Filmberichterstattung zu hindern. Gehorsam übertrugen die Kabuler Medien am afghanischen Neujahrstag eine Ansprache des obersten US-Kommandeurs, General McChrystal, als wäre er das Staatsoberhaupt und zum Islam übergetreten. Gehorsam schwiegen sie, als durch eine pakistanische Sendung bekannt wurde, daß der US-Sonderbeauftragte für Afghanistan und Pakistan, Richard Holbrooke, die brisante These aufgestellt hatte, in jeder paschtunischen Familie in Afghanistan gehöre mindestens ein Mitglied den Taliban an. Erst als sich das afghanische Parlament damit befaßte und die US-Botschaft in Kabul sich um Schadensbegrenzung bemühte, erwachten die Medien aus ihrem Tiefschlaf. Präsident Karsai schwieg eisern, aber viele Abgeordnete nannten Holbrookes Aussage sehr schädlich für einen Vielvölkerstaat wie Afghanistan. Sie beschädige die nationale Einheit des Landes. Die Paschtunen sind die stärkste Bevölkerungsgruppe im Süden Afghanistans.

Während über die Kriegführung im Süden Schweigen herrscht, gelangen Nachrichten aus dem Norden gelegentlich in die Medien, zum Beispiel die, daß in der nordöstlichen Provinz Kunar fünf Schüler eines Gymnasiums, die sich nach dem Unterricht in ihre Schlafräume zurückgezogen hatten, von US-Soldaten erschossen wurden. Ein Kind, das die Ermordeten als seine Cousins bezeichnete und einen nach dem anderen beim Namen nannte, weinte vor laufender Kamera. Nachbarn berichteten, die Schüler seien infolge falscher Informationen eines US-Agenten erschossen worden.

Nachdem fünf ermordete Mitglieder einer Familie mit verbundenen Augen gefunden worden waren, berichtete Tolo-TV, die NATO habe zunächst versucht, diese Bluttat zu verheimlichen. Aber die steigende Zahl ziviler Opfer bleibt kein Geheimnis und führt zu scharfen Reaktionen. So wagte die Tageszeitung Nejat, die Präsenz der NATO-Truppen in Afghanistan rechtswidrig zu nennen, und Schamschad-TV machte in der ostafghanischen Stadt Dschalalabad eine Umfrage, bei der sich alle Befragten für einen bedingungslosen Abzug der NATO aus Afghanistan aussprachen. Die Mehrheit meinte, das Verschwinden der NATO werde ein Grund zum Feiern sein.

Weder in Afghanistan noch in Deutschland scheinen es die Medien für ihre Aufgabe zu halten, Feststellungen der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen zu veröffentlichen. Die UNO berichtete acht Jahre nach Kriegsbeginn, die Gewalt in Afghanistan nehme weiter zu. Die UNESCO: Die Lebensbedingungen für Kinder seien in Afghanistan die schlimmsten weltweit. Und die UNICEF: Die Zahl der Jugendlichen, die Afghanistan verlassen, habe dramatisch zugenommen.

Aus dem UN-Bericht ging auch hervor, daß die afghanische Polizei an Drogenhandel und Menschenraub beteiligt ist – peinlich für Deutschland, das schon seit 2001 die Aufgabe übernommen hat, die Polizei der Kabuler Regierung auszubilden und auszurüsten. Auch die Meldung von Tolo-TV, ein im deutschen Darmstadt wegen Totschlag Verurteilter sei nun Landrat im kriegszerstörten Mardchah, wirft Fragen auf.

Mitte März teilten der Justizminister und der Generalstaatsanwalt in Kabul mit, daß 15 hochrangige Politiker, darunter Mitglieder des Kabinetts Karsai, wegen Korruption zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Unter den Genannten waren der Minister für religiöse Angelegenheiten, der Transportminister sowie Wirtschaftsminister, Mir Mohammad Amin Farhang. Letzterer wurde beschuldigt, aus dem Haushalt seines Ministeriums vier Millionen Dollar auf sein Schweizer Konto transferiert zu haben. Nach anderen Quellen soll er sogar 19 Millionen Dollar unterschlagen haben. Farhang machte von seinem deutschen Paß Gebrauch und reiste zu seiner Familie, die er vorsorglich hier gelassen hatte. Da die Bundesrepublik ihre Staatsbürger nicht an einen anderen Staat ausliefert, wird der Auslieferungsantrag des afghanischen Generalstaatsanwalts wohl ins Leere laufen.

Auch wenn die Medien das Thema meiden, ist die Korruption in der Millionenstadt Kabul der Hauptgesprächsgegenstand, und jeder nennt vor allem Ahmad Wali Karsai, den Bruder des Präsidenten. Man erzählt mir vom florierenden Drogenhandel und von der Anlage der üppigen Erlöse in Immobiliengeschäfte. Ringsum entstehen Hochhäuser. Teilweise wurden staatliche Ländereien einfach von den Baulöwen annektiert. Für Baugenehmigungen, erfahre ich, habe Ahmad Wali Karsai Millionensummen an Bestechungsgeldern gezahlt. Nein, nicht alle Afghanen leiden unter dem Krieg. Private Banken sprießen aus dem Boden. Bodenschätze von hohem Wert werden entdeckt. Aber auch die Armut nimmt zu. Und die Zahl der Selbstverbrennungen von Frauen. In Deutschland, das Tausende Soldaten und Polizisten entsandt hat, damit sie für Ruhe und Ordnung sorgen, scheinen solche Einzelheiten kaum jemanden ernsthaft zu interessieren.