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Bilanz der Kirchengeschichte  (Wolfgang Beutin)

In einem Interview, das dpa unlängst mit dem Kirchenhistoriker und -kritiker Karlheinz Deschner führte, lautete die Abschlußfrage, was die römisch-katholische Kirche künftig tun müsse, um in ihrem Bereich dem »sexuellen Mißbrauch« den Boden zu entziehen. Im Märchen hat man drei Wünsche. Deschner hatte in dem Interview bloß einen, aber in drei Wörtern: »Nicht nur, um dem sexuellen Mißbrauch den Boden zu entziehen, denn der geistige ist oft noch viel schlimmer – sie sollte verschwinden.« Drei Wörter. Zu stark, als daß die Presseagentur von ihrer grundgesetzlich garantierten Pressefreiheit hätte Gebrauch machen mögen. Offensichtlich der drei Wörter wegen unterdrückte sie weichmütig das ganze Interview.

Wahr ist: Das eigentliche Problem der römischen Kirche sind seit alters her nicht die Mißbrauchsfälle, sondern das ist sie selber, dieses mittelalterliche Relikt inmitten einer Gesellschaft, die als säkular-aufgeklärte wahrgenommen werden will. In einer solchen Gesellschaft müßte man indessen – um die Formel Goethes zu zitieren – das institutionalisierte Christentum mit seiner Gedankenwelt und seiner Praxis in seiner zweitausendjährigen Geschichte insgesamt als »Mischmasch von Irrtum und Gewalt« begreifen. Weswegen Voltaire dieselbe Institution mit dem rigorosen Bann belegte: »Écrasez l’infâme«, wobei ›die auszurottende Infame‹ der Aberglaube sein sollte oder die Kirche.

Mißbrauch oder mehr – Auskunft darüber kann man sich auch bei einem der besten Denker unter den Gelehrten von heute holen, einem der produktivsten Schriftsteller in den deutschsprachigen Ländern, dem »bekanntesten europäischen Theologen der Gegenwart« (Verlagswerbung), dem die Kirche freilich seine Lehrerlaubnis entzog und den sie vom Priesteramt suspendierte: Eugen Drewermann (geb. 1940).

Wer das Œuvre dieses Autors aufmerksam beobachtet, registriert dessen Redlichkeit in intensiver Forschungsarbeit zur Aufhellung der Vergangenheit und aktuellen Praxis des Systems Theologie und Kirche. Stetig verschärft sich seine Kritik an der »Gewalt« der Kirche als kriegsführender Macht und Kriegsbefürworterin, im Umgang mit den eigenen Gläubigen, als Machtapparat weltweit sowie an ihrer irrtümlichen Gedankenwelt, nämlich ihrer verheerenden Metaphysik, verdrehenden Bibelauslegung, aberwitzigen Theologie. Die grundlegenden Einsichten Drewermanns in seinen Büchern aus den letzten zwei Jahrzehnten, besonders aus den Jahren 2009 und 2010, sind nützlich für alle, die auf die Frage Mißbrauch oder mehr? eine Antwort verlangen.

Drewermann betont, daß es in der Bibel unbestreitbar Unerträgliches, Obszönes, Sadismus, Widerliches, Ausrottungsbefehle und Vernichtungsfeldzüge gibt. Man wird also zu sondern, Symbole zu entschlüsseln haben, die auf ein humanes, auch pazifistisches Bekenntnis verweisen, zum Beispiel die Bergpredigt als Friedensausruf. In Sachen Bibelauslegung warnt Drewermann freilich vor der eigenen Zunft, mindestens deren kirchenkonformer Majorität: »Läßt man die Theologen an die Bibel, wird daraus ein wirkliches Propaganda- und Kriegsbuch.«

Wie der Historiker Deschner die Kirchengeschichte in zehn Bänden als Kriminalgeschichte beschreibt, erscheint sie bei Drewermann als »die entsetzliche Blut- und Gewaltgeschichte der ›allerchristlichsten‹ Könige, der ›Kreuzzüge‹ befehlenden Päpste, die im Rückblick unglaublich anmutende Perversion des ›Friedensfürsten‹ aus Nazaret in einen ›Siegfriedensfürsten‹ der jeweils Herrschenden«. Drewermann war es, der als prominentester Redner damals inmitten des ersten Irakkriegs seine »Vier Reden gegen den Krieg am Golf« hielt und ihn als das bezeichnete, was er war: als einen Kampf um Ressourcen und als Ausgeburt einer Gesellschaftsordnung, von der feststehe: »Sie verhindert keinen Krieg, sie ermöglicht ihn.« Beide Großkirchen hätten mit den Mächtigen paktiert, voller Angst vor den Konsequenzen ihrer eigenen Ideale.

Die deutschen katholischen Bischöfe hatten am 6. Januar 1991 ihren eigenen Gläubigen bescheinigt, in der Kriegssituation seien sie »schwach und hilflos«. Drewermann: »… statt sie auszurüsten mit moralischer Kraft und Entschlossenheit und eindeutig nein zu sagen zum Krieg«. Es gelte aber: »Wir sind überhaupt nicht schwach und hilflos. Wenn wir nur wollen und uns zu Hunderttausenden zusammen tun …« Im Leben der Nationen und für die Bevölkerungen im Innern der Nationen sei »die Beseitigung des Militärs die wichtigste Voraussetzung« für ein Leben in Frieden und Wohlstand.

Drewermann erstrebt die »Entlarvung der bestehenden Religionsform« als »einer Hauptursache der seelischen und geistigen Erkrankungen der Menschen«. Eine Kirche, die, wie schon Sören Kierkegaard gesagt habe, »das genaue Gegenteil des neutestamentlichen Christentums« ausdrücke, sei »eine Organisation, die zum Zwecke ihres Machterhalts den Aberglauben verschüchterter Menschenmassen zum Dogma erhebt und im Zentrum geheimnisvoll magischer Rituale Gott durch sich selbst – durch die ›Mutter‹ Kirche – zu ersetzen sucht«. Kirche und Christenheit: könnten heute »nur noch als Travestie und Farce auf das ursprünglich Gemeinte gesehen werden«.

Eingehend befaßt sich Drewermann mit der Frage, ob Gott wirklich, wie die Kirche lehrt, die Welt geschaffen hat, um seine Allmacht, Weisheit und Güte zu offenbaren. Wenn Gott die Wahl gehabt hätte, eine andere Welt zu schaffen, hätte er nicht diese Welt schaffen dürfen, »die mit fühlenden Lebewesen derart gefühllos verfährt, wie niemand, kein Mensch und kein Gott, mit ihnen umgehen darf«.

Vordringlich scheint ihm jedoch die Frage, »welch einer Vorstellung ein Mensch bedarf, um angesichts der Welt zu seiner Menschlichkeit zu finden«. Als deren wesentliche Elemente nennt er »ein Stück Mitempfinden, Verstehen, Güte und Geduld«. So umschreibe man Jesu Lehre. An die aber dürfe man den konventionellen Gottesgelehrten keinesfalls heranlassen, denn: »Ein Professor der Theologie ist ein Verrat an der Sache Jesu.« Ein radikal neues religiöses Verständnis »des menschlichen Daseins in der Welt« enthülle »die gesamte Denkform der kirchlichen Theologie als einen widergöttlichen Irrweg«.

Und was hilft dagegen? »… erst die Phase des naturwissenschaftlichen Atheismus der Neuzeit, verbunden mit einer radikal negativen Theologie«, um »unabhängig von den Zwangsformeln kirchlicher Dogmen und Riten wieder ein Stück Wahrheit und Klarheit in das religiöse Bewußtsein zu bringen«.

Schlußfolgerung: Um der Humanisierung des Daseins der Menschen willen müßte das System Kirche sich endlich auflösen. Ist aber einstmals eine Welt der Menschlichkeit entstanden, wäre es erlaubt, sie neutestamentlich »Reich Gottes« zu nennen. Denn: »Das Reich Gottes bedeutet das Ende aller Religionen und Konfessionen, so daß jeder, der das Vaterunser betet, ob er es weiß oder nicht, mit den Worten ›Dein Reich komme‹ im Grunde sagt: Vergehen möge jede Kirche!«

Jede! Und nicht nur die Amtsausübung des Militärbischofs Mixa und eines Papstes, der ihm komplizenhaft zu seinem Amt verhalf und die Piusbrüder freundschaftlichst in die Gemeinschaft zurückbat, während er die Islamgläubigen und Orthodoxen, die Juden und Protestanten mit harschen Äußerungen abschreckte. In dem aufgeklärten Wunsch »Vergehen möge …« reichen der agnostische Humanist und der Humanist, dessen Lebensluft die Bergpredigt ist, einander die Hand.

Das Deschner-Interview erschien in zeitfragen-info-blog, April 2010; Jörg Fündling/Heribert Körlings (Hg.): »Das Eugen-Drewermann-Lesebuch«, Düsseldorf 2009; Eugen Drewermann: »Die Spirale der Angst. Der Krieg und das Christentum. Mit vier Reden gegen den Krieg am Golf«, Freiburg/Br. 1991; ders.: »Wir glauben, weil wir lieben. Woran ich glaube. Im Gespräch mit Jürgen Hoeren«, Ostfildern 2010; ders.: »Das Lukas-Evangelium. Bilder erinnerter Zukunft«, zwei Bände, Düsseldorf 2009