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Produktivitätszuwachs – für wen?  (Heinz-J. Bontrup)

Fritz Vilmar, Professor für Politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin, warnte die Gewerkschaftsführung schon 1975 auf dem Gipfel der damaligen Weltwirtschaftskrise vor den Folgen unterlassener kollektiver Arbeitszeitverkürzungen. Reine Wachstumsstrategien würden zukünftig eine vollbeschäftigte Wirtschaft nicht mehr garantieren können. Die Produktivitätsraten überstiegen die realen Wachstumsraten, so daß selbst bei einem demographisch konstanten Arbeitsangebot das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen zurückgehen werde. 1983 wiederholte Vilmar noch einmal die Warnung: »Wenn schwerwiegende Gefährdungen unserer Gesellschaft vermieden werden sollen, muß (…) in Zukunft Arbeitszeitverkürzung das wesentliche Mittel sein, um den jetzt und künftig Arbeitslosen die Möglichkeit zu geben, sich wieder in den Arbeitsprozeß eingliedern zu können.« Er sollte mit seinen Warnungen Recht behalten. Wesentliche kollektive Arbeitszeitverkürzungen unterblieben, die Arbeitslosenzahlen stiegen seit der Wirtschaftskrise 1974/75 fast kontinuierlich an, und die Gewerkschaften waren immer weniger in der Lage, in den Tarifverhandlungen zumindest den verteilungsneutralen Spielraum – gemessen an der Produktivitäts- und Inflationsrate – zu nutzen. Von der alten gewerkschaftlichen Forderung nach Umverteilung von oben nach unten zu Gunsten der gesamtwirtschaftlichen Lohnquote spricht in den Gewerkschaften heute kaum noch jemand, obwohl die Vermögensverteilung in Deutschland immer ungleicher geworden ist (das reichste Zehntel der Bevölkerung im Alter ab 17 Jahren verfügt über mehr als 60 Prozent des Gesamtvermögens). Unter dem Druck der Massenarbeitslosigkeit verloren die Gewerkschaften rapide an Durchsetzungskraft.

Je mehr die Arbeitslosenzahlen stiegen, schwanden auch die Mitglieder und die Tarifbindung. 2009 unterlagen nur noch 52 Prozent der abhängig Beschäftigten einem Branchentarifvertrag und zehn Prozent einem Haustarifvertrag. Die Massenarbeitslosigkeit führte zu einer Entstandardisierung der Beschäftigungsverhältnisse. Das unbefristete und tariflich abgesicherte Vollzeitbeschäftigungsverhältnis ging kontinuierlich in Richtung prekärer Beschäftigungsverhältnisse zurück. Von den 36 Millionen abhängig Beschäftigter waren 2010 nur 27,7 Millionen sozialversichert und 22,5 Millionen vollzeitbeschäftigt. 12,5 Millionen hatten eine Teilzeitbeschäftigung mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 14,7 Stunden, wovon man nicht leben und nicht sterben kann. Trotz rückläufiger registrierter Arbeitslosenzahlen (auch mittels statistischer Manipulationen herbeigeführt) beträgt in Deutschland die Beschäftigungslücke rund fünf Millionen fehlende Arbeitsplätze – während 6,7 Millionen Menschen, die zu wenig oder gar keinen Lohn beziehen, auf »Hartz IV« angewiesen sind.

Diese katastrophale Arbeitsmarktsituation erklärt sich mit der arbeitsmarkttheoretischen Binsenweisheit, daß der Preis der Arbeitskraft bei lange dauernder Massenarbeitslosigkeit immer weiter sinkt. Die »industrielle Reservearmee« erfüllt hier ihre bittere Funktion. Sie erzeugt Existenzangst auch bei den nicht Arbeitslosen und schwächt die Organisations- und Streikbereitschaft der Beschäftigten. Darüber hinaus antworten Unternehmer, Politiker und tonangebende Publizisten auf Arbeitslosigkeit unaufhörlich mit der demagogischen Forderung nach »Lohndisziplin«: Nur durch Lohnsenkungen könne Beschäftigung gehalten und neue aufgebaut werden. Es kommt sogar zu einer abnormalen Reaktion der abhängig Beschäftigten: Mit sinkendem Lohn reduzieren sie nicht ihr Arbeitsangebot, dies wäre laut ökonomischer Theorie die normale Reaktion, sondern sie weiten es notgedrungen aus (Suche nach Zweitjobs, Bereitschaft zu Überstunden et cetera). Die Folge ist ein immer stärkerer Lohnverfall bei gleichzeitig weiter bestehender Arbeitslosigkeit. So gingen allein von 2000 bis 2010 die realen (inflationsbereinigten) Bruttolöhne und -gehälter je Beschäftigten in Deutschland jahresdurchschnittlich um fast 0,4 Prozent zurück.

Trotz dieser ökonomischen Zusammenhänge und negativen Befunde standen die Gewerkschaften einer konsequenten und energisch eingeforderten Arbeitszeitverkürzung bis heute eher zögernd, wenn nicht sogar ablehnend gegenüber. Sie sahen sich offenbar als eine reine »Lohnmaschine«. Arbeitszeitverkürzungspolitik war allenfalls ein Nebenprodukt. Dennoch: Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich die Gewerkschaften in der kurzen Phase der Vollbeschäftigung für Arbeitszeitverkürzungen ein (»Samstags gehört Vati mir« war damals einer ihrer Slogans). Ab 1956 kam man sukzessive von der 48- zur 40-Stunden-Woche. In der überwiegenden Zeit mit Massenarbeitslosigkeit war dagegen in den Gewerkschaften der Ruf nach Arbeitszeitverkürzung eher unterentwickelt.

Auf dem 11. Bundeskongreß des DGB im Mai 1978 wurden dann nach der schweren Wirtschaftskrise von 1974/75 zumindest erste zaghafte Arbeitszeitdiskussionen ausgelöst. Dabei war man aber in den jeweiligen Einzelgewerkschaften von einer geschlossenen Strategie im Hinblick auf systematisch angelegte kollektive Arbeitszeitverkürzungen noch weit entfernt. Immerhin hatten sich aber Anfang 1977 die Delegierten auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall in einer Kampfabstimmung gegen den Vorstand durchgesetzt (der die Tarifpolitik auf die Durchsetzung des Sechs-Wochen-Jahresurlaubs konzentrieren wollte), zukünftig die Tarifpolitik auch auf die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche zu fokussieren. Im Oktober 1977 folgte die IG Druck und Papier mit der konkreten Forderung nach einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich. Bis zur endgültigen Durchsetzung der 35-Stunden-Woche verging aber noch eine lange, zu lange Umsetzungszeit mit negativen Folgen für die Beschäftigten: Arbeit wurde flexibilisiert und verdichtet, statt daß spürbar neue Arbeitsplätze geschaffen worden wären. Erst am 1. Mai 1994 kam es zur 35-Stunde-Woche in der westdeutschen Stahlindustrie, und am 1. April 1995 betrug auch in der Druckindustrie die tarifliche Wochenarbeitszeit 35 Stunden. Zum 1. Oktober 1995 folgte schließlich die westdeutsche Metall- und Elektroindustrie.

Schaut man sich das heutige Ergebnis an, so stellt man fest, das die 35-Stunden-Woche in Westdeutschland nur in den Branchen Metall- und Elektroindustrie, Stahlindustrie, Holz und Kunststoff verarbeitende Industrie, Druckindustrie und Papier verarbeitende Industrie umgesetzt wurde. In Ostdeutschland gilt die 35-Stunden-Woche sogar nur für die Stahlindustrie, nachdem der letzte größere Kampf um Arbeitszeitverkürzung in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie 2003 an fehlender Solidarität in den Gewerkschaftsreihen der IG Metall scheiterte, weil westdeutsche Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre in einzigartiger Form öffentlich den eigenen Verhandlungsführern und vor allem den Streikenden in den Rücken fielen (s. Ossietzky 14/03).

Seit dieser verheerenden Niederlage in Ostdeutschland scheint die IG-Metall-Spitze in Sachen Arbeitszeitverkürzung wie paralysiert. Jedenfalls wurde danach nicht mehr der geringste Versuch in einer Tarifrunde unternommen, die Arbeitszeit zu verkürzen. Bezeichnend in diesem Kontext ist auch die strikt ablehnende Haltung von Spitzenfunktionären der IG Metall gegen das jüngst vorgelegte »Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit«. Fragt man hier nach den Gründen, so kommt die stereotype Antwort, die Umsetzung von Arbeitszeitverkürzungen sei aus zwei Gründen völlig unrealistisch. Erstens könnten sie gegen die Interessen des Kapitals zur Zeit nicht durchgesetzt werden, und zweitens würden auch die Kollegen und Kolleginnen selber Arbeitszeitverkürzungen ablehnen.

Arbeitszeitverkürzungen berühren ebenso wie Lohnerhöhungen die Verteilung der jährlich realisierten Wertschöpfung und damit die Interessen des Kapitals, das sich daher selbstverständlich beiden widersetzt. Die Gewerkschaften hören deshalb nicht auf, Lohnforderungen zu stellen. Warum verzichten sie dann aber auf Arbeitszeitverkürzungen? Vielleicht weil sie sich in der Vergangenheit oftmals genötigt gesehen haben, in Anbetracht der bestehenden Massenarbeitslosigkeit Arbeitszeitverlängerungen ohne zusätzliche Bezahlung zuzustimmen? Nach solchen Erfahrungen sollten die Gewerkschaften dann eigentlich die Lektion gelernt haben und endlich die richtigen ökonomischen Schlüsse ziehen, daß nämlich, wie oben beschrieben, bei einem Überschußangebot an Arbeit deren Preis pro geleisteter Stunde gnadenlos verfällt. Ergo muß die Therapie aus Sicht der Beschäftigten und Gewerkschaften lauten: Verknappung des Arbeitsangebots! So macht es übrigens auch das Kapital an den Gütermärkten, wenn auf Grund einer zu geringen Nachfrage in Relation zum Angebot der Preis verfällt.

Dies muß man allerdings den Beschäftigten in den Betrieben erklären, die angeblich nur den »Schluck aus der Lohnpulle« wollen – was bis heute nicht empirisch bewiesen ist. Aber selbst wenn es so wäre, was ginge daraus schon hervor? Doch nur, daß die Beschäftigten unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse haben hinnehmen müssen und in den Lohnverhandlungen der verteilungsneutrale Spielraums nicht ausgenutzt wurde. Dann wollen sie selbstverständlich keine Arbeitszeitverkürzungen, sondern mehr Geld. Im Boom bieten sie sogar an, länger zu arbeiten, wobei die Mehrarbeit ohne Bezahlung und Mehrarbeitszuschläge auf Arbeitszeitkonten für schlechte Zeiten verbucht werden. Welch ein einseitiger Flexibilitätsvorteil für das Kapital. Man könnte fast fragen, wer eigentlich hier das unternehmerische Risiko trägt.

Und was bedeutet das alles für die Arbeitslosen? Sie haben selbst im wirtschaftlichen Aufschwung keine Chance, eine neue Beschäftigung zu finden. So kommt es insgesamt an den Arbeitsmärkten zu einem Insider-Outsider-Modell. Es wurde gerade im letzten Konjunkturzyklus überdeutlich: Im Aufschwung von
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Handgreiflich machen
Die Gewerkschaften in der Bundesrepublik, das ist auch ihren Vorständen nicht verborgen geblieben, befinden sich – militärsprachlich ausgedrückt – im »geordneten Rückzug«. Nicht in regelloser Flucht – noch sind sie, stärker als in vielen anderen europäischen Ländern, für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmerschaft die wirksamste Form der arbeitspolitischen Interessenvertretung. Aber der Geltungsbereich von Tarifverträgen wird kleiner, und es expandieren Arbeitsverhältnisse, die den Gewerkschaften nur wenig Chancen zur Gestaltung lassen: Kurzzeitjobs, Teilzeitarbeit, Scheinselbständigkeit, öffentlich bezuschußte Niedriglohn-Beschäftigung.

Die Gewerkschaften kommen aus der Defensive nur heraus, wenn sie wieder Attraktion gewinnen als Verfechter einer anderen Gesellschaftspolitik, im Interesse der Millionen von Bürgerinnen und Bürger, die jetzt »prekär« oder unter dem Risiko leben müssen, demnächst ins »Prekariat« abzusinken. Gewerkschaftliche Ziele müssen also über die Grenzen der tariflichen Regelungen in bestimmten Branchen und einzelnen Betrieben hinausweisen. Das »Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit« gibt dazu einen Anstoß. Daß die Gewerkschaftsvorstände ihn freudig aufgreifen und der regierenden Politik als soziales Heilmittel verordnen könnten, ist nicht zu erwarten. Also ist etwas dafür zu tun, daß dieses Manifest und seine Argumente in der Mitgliederschaft der Gewerkschaften bekannt und diskutiert werden, in Versammlungen und Seminaren, bei gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und Betriebsräten.

»Manifestieren« heißt auf Deutsch: handgreiflich machen. Das ist möglich. Man sollte den GewerkschafterInnen an der Basis nicht zu wenig zutrauen.

A. K.
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2006 bis 2008 haben die Beschäftigten (Insider) enorme Mehrarbeit geleistet und so eine Einstellung von Arbeitslosen (Outsider) weitgehend verhindert. In der Krise 2009 konnten die Beschäftigten dann ihre Arbeitszeit reduzieren und von den auf Arbeitskonten angesparten Stunden leben. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) resümiert: »Die flexiblen Arbeitszeiten haben im Jahr 2009 die Wucht der Wirtschaftskrise am deutschen Arbeitsmarkt größtenteils abgefangen.«

Und im jetzigen Aufschwung? – kommt es wieder nicht zu adäqaten Neueinstellungen, weil die Insider ihre in der Krise geleerten Konten wieder durch Mehrarbeit auffüllen. So bleiben die arbeitslosen Outsider weiter außen vor.

Dazu stellt am Ende der Vorstand der IG Metall resignierend fest: »Der wirtschaftliche Aufschwung hält in der Metall- und Elektroindustrie und in den meisten Branchen an. Das ist sehr erfreulich. Allerdings kommt dieser Aufschwung bei vielen Menschen nicht an. (…) Auch wenn der Beschäftigungsabbau in der Metall- und Elektroindustrie mittlerweile gestoppt ist und leichte Zuwächse verzeichnet werden, entstehen immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse in der Industrie. (…) Durch diese Entwicklung werden Belegschaften weiter gespalten und in den Betrieben zunehmend ungleich behandelt« (IG Metall, Vorstand, Wirtschaft aktuell 4/2011).

Genau: Diesen Zusammenhang muß man den Beschäftigten in den Betrieben klarmachen; das ist eine wichtige bildungspolitische und gewerkschaftliche Aufgabe. Ohne Verknappung des Arbeitsangebots, ohne Arbeitszeitverkürzungen wird es kein Ende der Grausamkeiten an den externen und internen Arbeitsmärkten geben, und die Verhandlungsführer der Gewerkschaften werden es – wie schon in der Vergangenheit – auch zukünftig in den Tarifrunden nicht schaffen, den realen Lohn produktivitätsorientiert zu steigern. Im Gegenteil: Der Lohn der Beschäftigten wird weiter fallen, und die Arbeitszeiten werden noch länger werden, als sie es heute schon sind. So ist weiter mit einer unheilvollen neoliberalen Umverteilung von unten nach oben zu rechnen – wenn in den Gewerkschaften die notwendige Diskussion über die dargestellten Zusammenhänge unterbleibt und wenn immer noch Gerhard Schröders Verdummungsparolen nachwirken, aus Wettbewerbsgründen müßten in Deutschland die Arbeitsmärkte flexibilisiert, die Arbeitszeit verlängert und der Lohn gekürzt werden, dadurch würden Arbeitsplätze gesichert.

Das »Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit« ist als Ossietzky-Sonderdruck erschienen und für 2 € (bei Abnahme von mindestens zehn Heften 1,50 €) beim Verlag erhältlich. Professor Dr. Heinz-J. Bontrup, Mitverfasser des Manifests, lehrt Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Arbeitsökonomie an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, Bocholt, Recklinghausen und ist Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memorandum-Gruppe).
Der Inhalt des »Manifests« soll am 30. Juni und 1. Juli in einer Konferenz im hannoverschen Gewerkschaftshaus eingehend diskutiert werden.