Der Darmbakterie EHEC, Typ O104:H4, sind bis 20. Juni nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (Bundesgesundheitsamt) 39 Patienten erlegen. Bundesweit registrierte das Institut 3587 Erkrankungen, davon 814 mit Komplikationen. Den Leitmedien reichte das für ein Horrorszenario, als ständen 82 Millionen Deutsche am Grabesrand: Der »Killer-Keim« (Bild) »wütete« (dpa) in unserm Volk und machte nicht mal an den Grenzen halt: »Deutschland infiziert Europa« (Focus)), mit bösen Folgen natürlich: »Europa rechnet mit deutschem Krisenmanagement ab« (Spiegel).
Politiker, Experten. Journalisten, alle bliesen die Backen auf. Tomaten, Gurken und Salat seien tabu, am besten meide man alles Frischgemüse. Die Mutti der Nation tat kund, daß »es jetzt vorrangig darum geht, die Infektionsquelle des EHEC-Erregers zu identifizieren, um weitere Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung ergreifen zu können.« Wie klug.
Während ich am Schreibtisch vespere – auf der Semmel pflanzliches Griebenschmalz, Tomatenscheiben, Gurke und Rukola, köstlich – lese ich in Wikipedia: »Enterohämorrhagische Escherichia coli (EHEC) sind bestimmte krankheitsauslösende Stämme des Darmbakteriums Escherichia coli ... Das Hauptreservoir des Erregers bilden Wiederkäuer, vor allem Rinder ...«
Im April war der aggressive Typ O104:H4 den Kuhfladen entstiegen. Unsere ruinöse Intensivlandwirtschaft mit Massentierhaltung und Monokulturen hatte schon früher EHEC-Epidemien verursacht, die harmloser verliefen. Der neue, aggressive EHEC-Mutant brachte bis Mitte Juni pro Tag durchschnittlich 0,8 Deutsche um. Vergleich: Im Straßenverkehr sterben täglich zehn Menschen (voriges Jahr 3657), ohne daß ein Ende in Sicht wäre. Kein Politiker rät zum völligen Verzicht aufs Auto.
Seit Anfang Juni glaubt man den EHEC-Überträger zu kennen: Sprossen aus Bienenbüttel. Da hatten unsere Politiker aber schon längst ihre Originalität bewiesen. Zumeist mit: Auf Hygiene achten! Also vor dem Essen, nach dem Essen Händewaschen nicht vergessen! Und abtrocknen am Handtuch, in dem die vielen kleinen Keime hausen. Man hatte ja Erfahrung. War man nicht knapp der Gefahr entronnen, sich per BSE-Rindfleisch den Alzheimer zu holen? Und wäre beinahe am SARS gestorben? Oder an der H5N1-Vogelgrippe? Und voriges Jahr an der H1N1-Schweinegrippen-»Pandemie«?
Kein kapitalistisches System ohne Verlierer. Die Bauern. Sie beschwerten sich zwar über das Robert-Koch-Institut und die polit-mediale Panikmache mit Konsumverzichtsfolgen: Die diesjährige Gemüseernte sei großenteils perdu. Aber die Bauernlobby, so stark und laut wie die EU-Agrarpolitik schändlich und teuer, erzwang blitzschnell Hilfe. Beim 150-Millionen-Euro-Angebot aus Brüssel schrie sie »Nicht genug!«, und prompt legte die EU-Kommission nach: 210 Millionen für Europas Gemüsepflanzer. Selbstverständlich kommen nationale Sonderbeihilfen obendrauf. Den Bauern ist´s immer noch zuwenig. Keiner merkte an, daß vorher doch wohl die Angehörigen der Toten und die Kranken zu entschädigen seien. Die wahrhaft Geschlagenen gehen leer aus. Systemkonform.
Die Krankenhäuser arbeiten laut heute-journal wegen EHEC »am Limit«. Solche Töne belegen, daß in der Berichterstattung rationale Maßstäbe und Realitätsbezüge längst flöten gegangen sind. In den zumeist privatisierten, profitorientierten und deshalb personell ausgedünnten Kliniken schuften Pflegedienst und Ärzte seit Jahren – auch ohne EHEC - »am Limit«. Noch viel schlimmer: Sie können trotzdem nicht verhindern, dass sich hunderttausende Kranke wegen Hygienemängeln – Kosten senken! – mit Krankenhauskeimen infizieren. Jährlich sterben daran 40.000 Patienten (lt. Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene): pro Tag durchschnittlich 109 Sepsis-Tote. Regierungen und Parlamente haben es so gefügt. Kein Staatsanwalt erhebt Klage wegen grob fahrlässiger Tötung gegen die gnadenlosen Privatisierer.
Welche Wirklichkeitsferne: Während den 39 EHEC-Toten wochenlang größte mediale Aufmerksamkeit gilt, gehen deutsche Soldaten in Afghanistan seit Jahren einer Profession nach, die Tucholsky schon 1931 in der Weltbühne Mord nannte. Gemeinsam mit ihren westlichen Kumpanen erzielen sie – ich bin auf vorsichtige Schätzungen angewiesen – eine zehnfach höhere Todesquote als EHEC. Genaues erfährt man nicht, die Alliierten lassen ihre Verbrechen kaschieren oder insgeheim von Spezialkräften durchziehen.
Wir sind dressiert, die Welt durch die verzerrende und verschmierte Brille kommerzialisierter Massenmedien zu sehen; wir finden uns sogar mit regierenden Terroristen ab. Der Kriegsminister darf unbesorgt, in christlicher Selbstergriffenheit, vor den Angehörigen toter Soldaten auf die Tränendrüse drücken und kurz darauf trocken erwähnen, die Bundeswehr werde »vielleicht« bald auch im Jemen und in Libyen gebraucht. Zwecks Wiederaufbaus, versteht sich.
Da ich gerade von Krieg spreche: Was ist von den selbst in US-amerikanischen Quellen sich mehrenden Informationen zu halten, daß ein gegen sämtliche Antibiotika-Stämme resistenter EHEC-Typ nur im Labor konstruiert werden kann – mittels »bio-engineering«? Die weltweit angesehenen Forscher des Beijing Genomics Institute, Shenzen, wiesen auf den absonderlichen DNA-Schlüssel des Erregers hin. Im Internet verbreitet sich das Gerücht, der Typ O104:H4 sei keine natürliche EHEC-Mutation, sondern eine Bio-Waffe. Der Spiegel und andere Leitmedien kontern: »Verschwörungstheorie!« und werfen sich schützend vor Monsanto, den verdächtigen US-amerikanischen Gentechnik-Konzern. Wer aber löst das Rätsel, wie und woher das Erreger-Artefakt auf die Sprossen eines einzigen Betriebes gelangte? Staatsanwälten, das steht inzwischen fest, wird es nicht gelingen.