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Titel1311

Peter Weiss, Itta und Ossi  (Lutz Volke)

Vor 50 Jahren erschien im Suhrkamp Verlag ein Prosatext, der eine neue Art autobiographischen Erzählens markierte: »Abschied von den Eltern« des in Schweden lebenden Schriftstellers Peter Weiss. Es war eine Beichte, ein schonungsloses Abtauchen ins eigene Ich, ein Sprengen von Fesseln, ein Ausbruch aus dem Elfenbeinturm. Die umfangreiche Erzählung endet mit dem Satz: »Ich war auf dem Weg, auf der Suche nach einem eigenen Leben.« Bald danach folgte der autobiographische Roman »Fluchtpunkt«, und am Ende seines Lebens – Weiss starb 1982 – stand der dreibändige Roman »Die Ästhetik des Widerstands«, vom Autor einmal leichthin als »Wunschbiographie« bezeichnet, da er meinte, die Entwicklung des fiktiven Erzählers sei auch in ihm selbst angelegt gewesen. Später ärgerte er sich darüber und wies den Begriff zurück. In allen diesen Schriften tauchen Personen auf, die für ihn von Bedeutung waren, die er kannte oder die ihn geistig begleitet haben – mal unter richtigen Namen, mal unter Pseudonymen. Nirgendwo aber findet sich ein Hinweis auf Henriette Itta Blumenthal. Und doch war es diese Frau, die den jungen Peter Weiss zur Selbstbesinnung und auf den Weg zur Selbstbestimmung brachte. Wer war diese Itta?

Unter den Frauen, Geliebten oder Angetrauten, nimmt sie eine Sonderstellung ein. Mit Weiss teilte sie – wie er jüdischer Herkunft – das Emigrantendasein. Und so lernten sie sich auch im Kreis von Emigranten um die Jahreswende 1940/41 in Stockholm kennen. Eine Liebesbeziehung gab es offensichtlich nicht zwischen ihnen, Itta war zwölf Jahre älter, aber es muß sozusagen eine versteckte Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Davon zeugt schon der erste Brief, den Peter Weiss im Frühjahr 1941 aus Alingsås, dem westschwedischen Wohnort seiner Eltern, an ihre Stockholmer Adresse schrieb. Er entschuldigt sich darin, daß er so abweisend war, und führt das auf die »große Dunkelheit« in ihm zurück. In weiteren Briefen beklagt er immer wieder, im »elfenbeinernen Turm« eingeschlossen zu sein, und weist die Schuld daran hauptsächlich seinem Elternhaus zu. Tatsächlich befand er sich zu dieser Zeit in einer schweren Lebenskrise. Nicht nur, daß er sich in dem »Provinznest« einsam fühlte und ihn die finanzielle Abhängigkeit von seinen Eltern und deren Unverständnis bedrückten, er konnte sich auch nicht entscheiden, welches künstlerische Ausdrucksmittel ihm entsprach. Sollte er sich der Malerei oder dem Schriftstellerdasein widmen?

Zudem plagte ihn die von ihm selbst konstatierte Gefühlskälte. Eine junge Frau, mit der ihn ein leidenschaftsloses Verhältnis verband, erwartete ein Kind von ihm. Nun bat er Itta um Rat. Die warf ihm vor, er »stelle gebrauchte Frauen ab wie schmutziges Geschirr«. Das empörte ihn zwar, aber er schrieb zurück: »Wie gut, daß du da bist – endlich ein Mensch! Vielleicht ersetzt du mir die Psychoanalyse …« Und so war es wohl tatsächlich. Zwar suchte er einen Psychoanalytiker auf, brach die Sitzungen jedoch bald ab und vertraute sich weiterhin vorbehaltlos, auch in intimsten Dingen, Itta an: »Du bist oft böse auf mich, weil du mich für unfertig hältst, andererseits mag auch gerade dadurch deine Zärtlichkeit entstehen, da du mich bemuttern willst.«

Die Beichtmutter, das war sie ganz selbstverständlich für ihn. Und so erfahren wir aus seinen Briefen an sie auch von seinen Liebesbeziehungen, zum Beispiel zu »Ossi«, Rosalinde von Ossietzky, Carl von Ossietzkys Tochter. »Ich liebte Ossi. Sie war so, wie ich mir eine Frau wünschte, sie war so voller Verständnis für mich, sie hatte das Alter der Frau, die ich brauchte, und ich sehnte mich so sehr nach menschlicher Nähe. Und dann waren wir, obgleich wir uns körperlich sehr zueinander hingezogen fühlten, auch wie Geschwister. Beide hatten wir es schon schwer gehabt, das verband uns.« Es war eine kurze, heftige Liebe, aber wohl aus Rücksicht auf Ossis schwedischen Mann, den er ebenfalls sehr mochte, zog er sich zurück.

Die »nichtgelebte Liebe« jedenfalls war Itta, die nicht nur die Beichtmutter abgab, sie war vor allem Anregerin und gab wohl den entscheidenden Anstoß dazu, daß aus Selbstbemitleidung und Verwirrung, aus dem »tollen Welttheater, was sich da im eigenen Inneren vollzieht«, große analytische Literatur werden konnte. Als er schon der weltberühmte Peter Weiss war, haben sie sich nochmals getroffen und auch ein paar Zeilen ausgetauscht – sie war 1941 in die USA emigriert und starb dort im Jahre 2000. Die alte Vertraulichkeit stellte sich jedoch nicht wieder ein. Sie beklagte sich ein wenig über seine Zurückhaltung.

Die 21 frühen Briefe von Peter Weiss an Henriette Itta Blumenthal sind nun in einem Band versammelt, die Briefe an ihn sind leider nicht erhalten. Es ist eine sehr sorgfältige Edition, die auf Anregung des Weiss-Forschers Jürgen Schutte entstanden ist, mit einer einfühlsamen Einleitung der Herausgeber, umfangreichen Anmerkungen, Zustandsbeschreibung der im Peter-Weiss-Archiv vorhandenen Originale und einem Personenregister. Wer Motiven in den Schriften von Peter Weiss nachgehen will, auch über die genannten Romane hinaus, der findet hier viele Grundbausteine zum Verständnis des Werks und des schweren Weges, den der Autor vom bindungslosen Künstler zum engagierten, sozialistisch orientierten Schriftsteller zu durchschreiten hatte.

Peter Weiss: »Briefe an Henriette Itta Blumenthal«, hg. von Hannes Bajohr und Angela Abmeier, Matthes & Seitz, 175 Seiten, 19,90 €