Die meist harmlos »Wende« genannte Wiederherstellung eines einheitlichen kapitalistischen deutschen Staates hat lange gehegte Hoffnungen vieler Menschen zerstört und ungezählten anderen neue Chancen verschafft. Zu letzteren gehören jene, die seit langem darauf aus waren, Geschichtsbilder zu korrigieren. Unter der falschen Flagge des Pluralismus wurde dieses Interesse auch auf diejenigen Jahre deutscher Geschichte gerichtet, in denen über dem Lande die Hakenkreuzfahnen geweht hatten. Das Unternehmen war heikel und stieß auf Widerstände wie die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« 1995. Die von ihr vermittelten Vorstellungen über den Platz des Faschismus in der deutschen Geschichte und den Charakter des Regimes und seiner Träger sollten korrigiert werden. Für dieses Anliegen fand sich eine bunte Gesellschaft zusammen, zu der Einrichtungen wie der Verfassungsschutz und das Fernsehen und Personen wie der umtriebige Historiker Götz Aly und die vertriebene Erika Steinbach gehören.
Wie weit sind sie gekommen? In einer der Laberrunden (»Talkshows«) des öffentlich-rechtlichen Fernsehens darf jetzt gesagt werden: »Das deutsche Volk war reif für Hitler« und »Das Volk hat Hitler in die Reichskanzlei gehievt«, ohne daß sich noch Widerspruch erhebt. Und wenn Aly das Nazi-Regime zur »Wohlfühldiktatur« erklärt, nimmt ihm das die tonangebende Konzernpresse dankbar zahlend ab. So wird Vergangenheit neu bewältigt. Und Neonazis, an denen sich wenig Neo entdecken läßt, publizieren über das »Wirtschaftswunder 1933-1939«.
Noch prinzipieller befaßt sich der Verfassungsschutz mit der Geschichte jener Jahre, beispielsweise der bayerische. Er hat in einer Klageerwiderung, in der er die Aufnahme der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes /Bund der Antifaschisten in seinen Jahresbericht zu rechtfertigen sucht, moniert, daß sich unter den Mitgliedern dieser Organisation Leute befinden, die den Faschismus an der Macht als eine Form staatlicher Verfaßtheit der bürgerlichen Gesellschaft ansehen – neben und nach anderen wie der konstitutionellen Monarchie, der Republik oder autokratischen Staatsformen. Wer aber, so schließen die Herren des Schutzes messerscharf, die bürgerliche Gesellschaft auch nur im Rückblick als derart gebärfähig hinstellt, diffamiert sie und ist auch ein Gegner der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, denn die ordnet das politische Leben in einer ihrer bürgerlichen Ausprägungen. Folglich gehört er überwacht. Ja, so die Behauptungskette weiter, der bekämpft die Bundesrepublik als Vorform des Faschismus – eine Erkenntnis, zu der einem nur Lichtenberg einfällt: Mit größerer Majestät hat nie ein Verstand stillgestanden. Bleibt freilich die Frage unbeantwortet, wie der soziale Boden anders genannt werden soll, auf dem der Faschismus gedieh.
Mit ihr lassen die Historiker des Amtes ihre Adressaten jedoch allein.
Auf andere Weise nehmen sich Steinbach und Aly der Verfälschung des Faschismus an, den sie wie üblich und inzwischen nahezu verbindlich »Nationalsozialismus« nennen, und das nicht aus Verlegenheit, sondern mit Vorsatz. Die Laienhistorikerin ermahnte im Internet einen Unaufgeklärten: »Die Nazis waren eine linke Partei. Vergessen?« Und das scheint ihr allein schon durch deren Namen bewiesen zu sein. Dabei war der als Etikettenschwindel schon markiert, lange bevor die inzwischen nahezu Siebzigjährige geboren wurde.
Dagegen haben Leute, denen solcher Kenntnis vortäuschende Primitivismus einfach auf den Geist geht, Einspruch erhoben, Damit haben sie sich jedoch eine mehr als nur akademische Rüge Alys eingehandelt, die prompt in der Berliner Zeitung vom 7. Februar 2012 veröffentlicht wurde. Der Text endet so: »Das Gezeter um Erika Steinbach lenkt ab. Denktabus verstellen den Blick.« Da ist es wieder, das Plädoyer für den Pluralismus, für die Freiheit des Gedankens, denn: Man wird doch mal fragen dürfen: »Wie links war die NSDAP?«(so die Überschrift des Artikels ). Was angeboten wird, diese politische Verortung glaubhaft zu machen, ist dürftig. Denn daß in Zeiten des Umbruchs Menschen überlaufen, die Gesinnung, so sie eine hatten, wechseln und auch die Fahnen tauschen, die rote gegen die rote mit dem Hakenkreuz, beweist für den Charakter des Regimes ebenso wenig wie einige aus Zusammenhängen gerissene Zitate aus Schriften mehr oder weniger angesehener Autoren. Anderes wird ausgelassen.
Im Juli 1930, noch bevor die Hitlerpartei am Beginn der Wirtschaftskrise ihren mit einem Erdrutsch verglichenen Wahlerfolg (18 Prozent der Stimmen bei der Reichstagswahl) erreichte, verließ eine Gruppe von Gefolgsleuten des »Führers« seine Reihen. Sie publizierte zur Begründung ihres Schrittes eine Erklärung unter der Überschrift »Die Sozialisten verlassen die NSDAP«. Das waren keine Überläufer zur Linken, sondern Enttäuschte, die sich, selbst in wirren politischen Bildern befangen, einen »nationalen Sozialismus« vorstellten, einen antiimperialistischen und antikolonialen, der eine »große Antithese des internationalen Kapitalismus« sein müsse. Sie beklagten auch, daß »Hitler sich zwar häufig mit führenden Kreisen der Unternehmer- und Kapitalistenschaft über die Ziele und Wege des »Nationalsozialismus« aussprach, aber nie Gelegenheit nahm, mit führenden Kreisen der Arbeiter und Bauern das gleiche zu tun.«
Aus jenen Jahren ließen sich ähnliche Sichten auf die Nazipartei in Menge zitieren, die von kommunistischen, sozialdemokratischen und Zentrumspolitikern stammen. Als die Führungsgruppe der Nazis an die Macht gelangte, umgab sie schon kein Geheimnis mehr. Nur der Masse der gläubigen Gefolgschaft enthüllte es sich erst mit einer Verspätung, für die auch sie zu zahlen hatte.
Acht Jahrzehnte sind vergangen, da soll den Deutschen im Vertrauen auf den Bildungsstand der Mehrheit in Sachen Geschichte die faschistische Herrschaft als linkes Projekt und »der Führer« als ein Linker angedreht werden. Zu welchem Zweck? Zur Diffamierung der wirklichen Linken und als ein Beitrag zur Verbreitung und Festigung der hierzulande vorherrschenden aggressiven anti-
sozialistischen Grundstimmung. Zu ihr gehört, daß zwar das ohnehin nicht zu verbietende Nachdenken über eine andere als die kapitalistische eben noch erlaubt ist, aber doch diffamiert und verdächtigt wird. Wie das geschieht, mag denen noch erinnerlich sein, die jene Attacke gegen die damalige Vorsitzende der Linkspartei nicht vergessen haben, die es gewagt hatte, an einer Diskussion über denk- oder wünschbare Gesellschaftsmodelle teilzunehmen. Die Haltung, die sich in dieser Kampagne ausdrückte, bedeutet den Bruch mit einer geistigen Tradition, die aus philosophischen, religiösen, politischen und anderen Quellen gespeist wurde und zum besten Erbe gehört, das uns Generationen von Denkern hinterlassen haben.