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Titel1312

Wie Geschichte gehandelt wird  (Helmut Kramer)

In den ersten Folgen dieser Ossietzky-Serie über die Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel, wo in der NS-Zeit mehr als 650 Menschen hingerichtet wurden, habe ich mich vor allem mit dem Gedenkstättenleiter Wilfried Knauer und seinem Vorgesetzten Habbo Knoch, dem Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, auseinandergesetzt. Welche Rolle spielen aber die Wissenschaftler, die nach Paragraph 2 des niedersächsischen Gedenkstättengesetzes die Stiftung beraten sollen?

Knoch hat sich dank guter Vernetzung bisher Kritik erfolgreich vom Halse halten können (s. Ossietzky 10/2012). In einem intransparenten Verfahren wurden die Fachgremien der Stiftung mit Personen nach seinem Gusto besetzt. Manche von ihnen betrachten die Mitgliedschaft in solchen Kommissionen eher als Schmuckstück in ihrem Berufsprofil denn als eine Aufgabe, die eigene Arbeit erfordern würde. Ein Kommissionsmitglied vermeldet auf seiner Homepage in der Rubrik »Was ein Professor so alles macht« stolz die Zugehörigkeit zu 18 wissenschaftlichen Beiräten und ähnlichen Institutionen. Eben dieser Professor für Didaktik war es, der nach einem kurzen Rundgang die Wolfenbütteler Ausstellung als zu »textlastig« bezeichnete und damit Knochs Weigerung unterstützte, die Täterseite stärker zu beachten.

Der hannoversche Rechts- und Politikwissenschaftler Joachim Perels und ich haben versucht, das Forum Justizgeschichte einzubeziehen, eine bürgerrechtliche Organisation mit dem Selbstverständnis, die Aufarbeitung der NS-Justiz voranzubringen. Der jetzige Vorsitzende des Forums, Privatdozent Thomas Henne, überraschte uns dann jedoch in einem Newsletter des Forums mit einem von seinem Mitarbeiter gezeichneten Text, in dem er mir vorwarf, Knoch völlig grundlos angegriffen zu haben: Die Aufgaben der Wolfenbütteler Gedenkstätte seien heute anders als die Fragen, die »vor 30 Jahren« Helmut Kramer und seine Freunde gestellt hätten. Protestierenden Mitgliedern des Forums hielt Henne entgegen, eine Debatte über die Einzelheiten des Konflikts sei »nicht weiterführend« und »wenig zielführend«, man solle die Kräfte auf eine »zukunftsgewandte Arbeit« verwenden. In einem weiteren Newsletter teilte er beiläufig mit, Knoch habe ihn in eine »Internationale Expertenkommission für die Gedenkstätte Wolfenbüttel« (IEK) berufen. Er wurde inzwischen sogar Vorsitzender dieses Gremiums.

Auf der Mitgliederversammlung des Forums im September 2011 sah sich Henne starker Kritik ausgesetzt. Nach langer Debatte versprachen er und die anderen Vorstandsmitglieder, am 21. Januar 2012 die Gedenkstätte zu besuchen. Weiteren Forumsmitgliedern, die an der Besichtigung teilnehmen wollten, konzedierte er nur eine Einladung zu einem »mitgliederöffentlichen Abendessen« in Wolfenbüttel am selben Tag. Begründung: »Eine Konfrontation der divergierenden Ansichten (sei) weder weiterführend noch dem Ort angemessen.« Erwünscht seien nur »sachorientierte« Diskussionen. Über die Erlebnisse der elf Vereinsmitglieder am 21. Januar habe ich schon berichtet (s. Ossietzky 10/12).

Dem Forum selbst stand bis vor kurzem ein wissenschaftlicher Beirat zur Seite, der unter anderem durch Vorschläge für Tagungsthemen und die Ausarbeitung umfangreicher Tagungsprogramme gute Arbeit leistete. Doch Henne berief das Gremium nicht mehr ein. Auf der letztjährigen Mitgliederversammlung erklärte er die turnusmäßig anstehende Neuwahl der Beiratsmitglieder mit der unzutreffenden Behauptung für überflüssig, der Beirat habe nichts getan.

Der Internationalen Expertenkommission für die Gedenkstätte Bergen-Belsen hatte sich Habbo Knoch schon bald nach seinem Amtsantritt als Geschäftsführer der Gedenkstättenstiftung entledigt. Auf seinen Vorschlag hin beschloß der Stiftungsrat, die Kommission aufzulösen und durch ein neues Gremium mit dem schönen Namen »International Advisory Board Bergen-Belsen« zu ersetzen. Er machte jedoch keinen Vorschlag, wer dem Advisory Board angehören soll. Er benannte: niemanden. Und so steht der großen Gedenkstätte Bergen-Belsen seit mehr als drei Jahren keine Kommission mehr zur Seite – ein Verstoß gegen den oben erwähnten § 2 des Gedenkstättengesetzes.

Da es nun an jeglicher wissenschaftlicher Kontrolle fehlt, kann Knoch auch die Gedenkstätte Bergen-Belsen nach Belieben verwalten. Und er kann es sich leisten, den von seinem Vorgänger Wilfried Wiedemann im wesentlichen fertiggestellten Ergänzungsband zu dem im Mai 2009 erschienenen Katalog der Bergen-Belsener Ausstellung bis heute liegen zu lassen. Gegenstand des Ergänzungsbandes sind die Täterbiographien.

Es gibt einen aktuellen Anlaß, die Kommission für Bergen-Belsen wieder einzuberufen: Die Stadt Bergen hat die Errichtung eines Anne-Frank-Hauses angekündigt. Zwar hat die Stiftung mit diesem Vorhaben nicht direkt zu tun. Doch Knoch hat sich damit befaßt und gegenüber der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 5. Juni 2012 einen solchen »Personenkult« schroff abgelehnt. Er tat das ausdrücklich im Namen der Stiftung – zur Empörung vieler ehemaliger Überlebender des KZ. Das Projekt, das von der Anne-Frank-Foundation mit einer jährlichen Tagung in Bergen gefördert wird, soll mit Hilfe des besonders gut geeigneten Beispiels Anne Frank zukunftsweisend der Gefahr antisemitischer und rassistischer Tendenzen entgegenwirken.

Henne hat derweil als Vorsitzender der Kommission für Wolfenbüttel in einem neuen Newsletter des Forums Justizgeschichte seinen »Bericht über die 1. Sitzung der IEK« veröffentlicht. Der dunkle Gedenkstätten-Neusprech dieses Berichts gleicht auffallend der Diktion Habbo Knochs. Die Frage »Wofür steht der Ort? Was beglaubigt er?« wird damit beantwortet, daß eine »Verdichtung auf die eine narrative Grundidee nicht gelingen kann«, weil die Besucher mit »vielerlei konkurrierenden Realitäten« konfrontiert werden müßten. Die sich »daraus ergebende Multiperspektivität (sei) als Wert unumstritten; ein Ausspielen der X- gegen die Y-Perspektive fand während der Kommissionssitzung nicht statt. Das Ende historischer Großerzählungen und der Untergang des Ideals einer Leitwissenschaft machte die Akzeptanz konkurrierender Realitäten ersichtlich einfacher«. In der vorhandenen Ausstellung seien die »großen Textmengen, nicht zuletzt der ausgestellten juristischen Dokumente« auf Kritik gestoßen. Andererseits sei fraglich, ob mit den anderen Texten, darunter Abschiedsbriefe und persönliche Dokumente, »der spezifische Unrechtsgehalt der juristischen Verfahrensrationalität im Nationalsozialismus belegt wird.« Wiederum führe »das Wissen um die Mittel, mit denen die ›furchtbaren Juristen‹ der NS-Zeit arbeiteten, nicht notwendig zur Kompetenz, dafür eine museumspädagogisch sinnvolle Darstellung in einer Ausstellung zu finden«.

Bei aller Vagheit solcher Rhetorik läßt Hennes Bericht es doch in einem Punkt nicht an Konkretheit fehlen. Da gelingt es ihm fast, Knochs Geringschätzung des Täteraspekts noch zu übertreffen: Die Forderung nach »mehr Täterbiographien« würde »jedenfalls der Komplexität der Gedenkstätte (und ihrer ›Multiperspektivität‹) kaum gerecht«. Damit erteilte Henne auch dem Fehlen von Täterbiographien und der eigenmächtigen Beseitigung des Wolfenbütteler »Täterturms« gleichsam wissenschaftlichen Segen.

Unpassend findet Henne hingegen den Versuch eines engagierten pädagogischen Mitarbeiters der Gedenkstätte, in Nebenräumen einige Amnesty-Plakate gegen die Todesstrafe anzubringen und dadurch wenigstens etwas Gegenwartsbezug in die Ausstellung zu bringen.

Zu der ersten und bisher einzigen Sitzung der Internationalen Expertenkommission war übrigens die Hälfte der Mitglieder nicht erschienen, darunter die beiden ausländischen. Dieser Umstand konnte allerdings kaum Schaden anrichten, weil sich sowohl diese beiden als auch fast alle anderen noch nie wissenschaftlich mit der NS-Justiz, dem zentralen Thema der Gedenkstätte Wolfenbüttel, befaßt haben.