Das Getöse um die verruchte »Zwangsarbeit« in den Haftanstalten des untergegangenen ostdeutschen Staates (s. Ossietzky 13/12) hält – von kleinen, zuweilen auch längeren Pausen unterbrochen – an. Dafür sorgen schon DDR-Aufarbeiter wie Roland Jahn, Hubertus Knabe oder Ulrike Poppe. Wie wohltuend war es da, als sich unter ihnen unerwartet eine Stimme halber Vernunft erhob, ausgerechnet die des Oberaufarbeiters der SED-Diktatur, Rainer Eppelmann, der sich sonst keine Gelegenheit entgehen läßt, Willkür und Unrecht anzuprangern.
Doch dieses Mal, man nimmt es mit Erstaunen zur Kenntnis, mahnte er zur Zurückhaltung in der Debatte. Freilich seien die Bedingungen in DDR-Gefängnissen unmenschlich gewesen. Im Kern gehe es aber um die Frage, ob ein Staat verurteilte Straftäter zur Arbeit zwingen darf oder nicht. Dabei sei es den Betroffenen ziemlich egal gewesen, ob sie für einen DDR-Betrieb oder ein Westunternehmen arbeiten mußten, womit er auf die Kampagne der Medien abhob, die empört die verabscheuungswürdige Tatsache verurteilten, daß in DDR-Haftanstalten auch Produkte für IKEA, Salamander, Schiesser, Beiersdorf und Underberg hergestellt worden sein sollen. Geradezu wohltuend unterschied sich die Eppelmannsche Mahnung zur Zurückhaltung von anderen Erklärungen, wie zum Beispiel der des sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Lutz Rathenow, der die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung des Arbeitszwanges in DDR-Gefängnissen forderte, da die Bedingungen, unter denen Häftlinge zum Arbeitseinsatz kamen, teilweise »äußerst entwürdigend und gesundheitsgefährdend« gewesen seien.
Merkwürdig war allerdings, daß die Mahnung Eppelmanns lediglich vom Evangelischen Pressedienst (epd) verbreitet und selbst in den sogenannten seriösen Medien, mit Ausnahme der in Ulm herausgegebenen Tageszeitung Südwest Presse, keinerlei Erwähnung fand. Offenbar fügte sie sich nicht sonderlich gut in das Konzept der Dämonisierung des Unrechtsstaates ein, das nach der Aufdeckung immer neuer schrecklicher Untaten verlangt. Außerdem ahnten sie, daß der Experte in Sachen der Aufarbeitung der Verbrechen der SED-Diktatur seine Erklärung so ernst nicht gemeint haben konnte. Und selbstverständlich hatten sie recht.
Der Ex-Pfarrer und Bürgerrechtler, der einst Waffen zu Pflugscharen umschmieden wollte und später dem Waffeneinsatz in den Kriegen gegen Jugoslawien und Afghanistan seinen Segen gab, hatte auch seine Mahnung zur Zurückhaltung so ernst nicht gemeint. Im Gegenteil, mutig und entschlossen geht er bei der Aufdeckung und Verurteilung der »Haftzwangsarbeit« voran. So veranstaltete die von ihm geleitete Aufarbeitungsstiftung gemeinsam mit den Landesbeauftragten für die MfS-Unterlagen und den sogenannten Opferverbänden einen Kongreß zur Zwangsarbeit. Hier wurde beklagt, daß es bisher nur wenig Forschungsarbeiten zu diesem Thema gibt – Roland Jahn sprach an anderer Stelle davon, daß »wir alle noch ein bißchen im Nebel stochern« – aber das hinderte die Stiftung nicht daran, in einer »Dokumentation zur Haftzwangsarbeit in der DDR« festzustellen, daß »Haftzwangsarbeit ein wesentlicher Teil des Strafsystems« und »der zwangsweise Einsatz von Arbeitskräften eine wesentliche Stütze« waren, »um die Produktion in den volkseigenen Betrieben, im Bergbau, der Industrie und der Landwirtschaft sicherzustellen«. Weshalb nicht gleich formuliert wurde, daß die »Haftzwangsarbeit« entscheidend für das ökonomische Überleben des Unrechtsstaates war, bleibt ein Rätsel.
Kein Rätsel ist es allerdings, weshalb sich die Dokumentation zur »Haftzwangsarbeit« nur mit der vor 23 Jahren verstorbenen DDR und nicht mit der noch quicklebendigen Bundesrepublik befaßt, in der man in punkto Gefängnisarbeit keinesfalls »ein bißchen im Nebel stochern« müßte. Hier liegt doch alles hell zutage. Einige Kleinigkeiten sind ohne große Mühe zu recherchieren. Schon ein Blick in das Grundgesetz zeigt, daß im Rechtsstaat BRD alles rechtens zugeht. So heißt es denn auch im Absatz 3 des Artikels 12: »Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.« Nun gut, der Begriff »Zwangsarbeit« ist eigentlich mit der brutalen Ausbeutung von KZ-Häftlingen, vor allem von Juden und Kriegsgefangenen im faschistischen Dritten Reich verbunden, aber bekanntlich wurde das Grundgesetz kurz nach dessen Untergang geschrieben. Seien wir also nachsichtig, daß die Väter des Grundgesetzes diesen Begriff übernommen haben. Aber wenn »Zwangsarbeit« »zulässig« ist, bleibt die Frage, ob sie auch für alle Gefängnisinsassen Pflicht ist? Die Antwort gibt Paragraph 41 des Strafvollzugsgesetzes, in dem es einleitend heißt: »Der Gefangene ist verpflichtet, eine ihm zugewiesene, seinen körperlichen Fähigkeiten angemessene Arbeit, arbeitstherapeutische oder sonstige Beschäftigung auszuüben, zu deren Verrichtung er auf Grund seines körperlichen Zustandes in der Lage ist.« Eine Verweigerung der Arbeitspflicht kann zu strengen Disziplinarmaßnahmen führen.
Nicht wenige Strafgefangene in der Bundesrepublik möchten ihrer »Arbeitspflicht« nachkommen, denn das bringt ein wenig Abwechslung in den trostlosen Aufenthalt hinter Gittern und außerdem einen Arbeitslohn, wenn dieser auch recht bescheiden ausfällt – etwa neun Prozent dessen, was außerhalb der Gefängnismauern gezahlt wird. Aber angesichts der allgemeinen Erwerbslosigkeit gibt es in den Haftanstalten nicht genügend Arbeitsplätze, in der Regel reichen sie nur für 50 bis 60 Prozent der Häftlinge.
Im Freistaat Bayern ist die Lage ein wenig besser. Hier heben verantwortliche Staatsdiener im Justizministerium hervor, daß die Zusammenarbeit mit externen Betrieben auf »langjährigen guten Kooperationen beruht«, was die Beschäftigung relativ krisenfest und, man höre und staune, »selbst gegenüber Billiglohnländern konkurrenzfähig macht«. Angaben darüber, ob in den bayerischen Knästen auch für die Möbelkette IKEA produziert wird, gibt es nicht. Nicht ohne Stolz wird jedoch hervorgehoben, daß unter anderem hochwertige Möbel für den Bayerischen Landtag und die Bayerische Staatskanzlei gefertigt wurden. Darüber kann sich der Landesregierungschef Horst Seehofer gleich doppelt freuen: über die schönen preiswerten Möbel in seinem Amtssitz und über die beträchtlichen Einnahmen für sein Staatssäckel, in das allein aus der Justizvollzugsanstalt Straubing im Jahr 2011 6,3 Millionen Euro geflossen sind.
Auf diese vom Grundgesetz gedeckte »Zwangsarbeit« geht Rainer Eppelmann in seinen Dokumentationen mit keinem Wort ein. Wozu auch? Schließlich ist er Chef der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und nicht einer solchen Einrichtung zur Aufarbeitung der Diktatur des Kapitals. Und warum sollten es die anderen Aufarbeiter und die über die »Zwangsarbeit« in DDR-Haftanstalten empörten Medien anders halten?