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Wahllos in Europa  (Georg Rammer)

Die Plakate können abgehängt werden. »Gemeinsam erfolgreich in Europa« hat als Programm gewonnen. Die Wahlen sind vorbei, fast hört man das Aufatmen der großen Parteien: Es hätte schlimmer kommen können. Die Geschäfte gehen weiter, Posten werden ausgehandelt, TTIP vorangetrieben. Brussels Business.

Auch die Kommentare in den Leitmedien heben hervor: Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen. Aber für Begeisterung besteht kein Anlaß. Front National, UKIP, Jobbik und FIDESZ, Goldene Morgenröte, AfD … – überall sind Rechte und Rechtsextreme auf dem Vormarsch. Die Wahlbeteiligung liegt EU-weit bei 43 Prozent; die Mehrheit hat sich nicht an den Wahlen beteiligt, trotz Wahlpflicht in vier Ländern, die in Belgien sogar strafbewehrt durchgesetzt wird. Dort betrug die Beteiligung deshalb auch 90 Prozent.

Keine Erwähnung findet, daß in acht Ländern sogar weniger als ein Drittel der Wahlberechtigten zur Urne gingen: In der Slowakei waren es gerade mal 13 Prozent, in Tschechien 19,5, in Slowenien 20,9, in Polen 22,7, in Ungarn 28,9, in Kroatien 25,6, in Rumänien 32,1 und in Lettland 30 Prozent. Die Begeisterung für die EU scheint sich in den östlichen Erweiterungsgebieten der EU in Grenzen zu halten. In manchen Kommentaren klingt an: Sie sollten doch wirklich dankbarer sein, nachdem wir sie vom Kommunismus gerettet haben!

Dabei kam nach 1989 in den meisten dieser Länder vorsichtige Aufbruchstimmung auf. Beispiel Ungarn: Mit den Investitionen von Audi, Mercedes und Opel, mit Allianz, Bosch, Deutsche Telekom, RWE, SAP und vielen anderen schien auch der Wohlstand in greifbare Nähe gerückt. Gleich nach dem wirtschaftlichen und politischen Umbruch eroberte auch Springer den Pressemarkt; inzwischen ist er mit 60 Magazinen und zehn Tageszeitungen der zweitgrößte Verlag im Land. Die Konzerne nutzten die Chancen des neuen Marktes und die billigen Arbeitskräfte. Nicht alle blieben: Schon nach wenigen Jahren sprudelnder Gewinne zogen einige weiter nach Osten.

2004 erfolgte die Osterweiterung der EU, sechs der genannten Länder wurden Mitglied; Rumänien folgte 2007, Kroatien schließlich 2013. Und alle beeilten sich, die Politik der erfolgreichen Staaten des westlichen Kapitalismus zu kopieren und führten neoliberale »Reformen« durch. In Ungarn ist seitdem die Umgestaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen das Ziel aller Regierungen, um das Land zur »wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaft zu machen«, wie das Auswärtige Amt in Berlin informiert. Die Sozialleistungen für Arbeitslose wurden in diesem Bemühen zusammengestrichen, die Renten gekürzt, Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger eingeführt, Arbeitnehmerrechte radikal beschnitten. Das bekannte neoliberale Arsenal eben. Und der »Erfolg«?

Armut und soziale Ungleichheit sind beständig angestiegen – nicht anders als in den meisten anderen neoliberal regierten Ländern Europas, auch in Deutschland. Gerade hat das Statistische Bundesamt in einer Pressemitteilung darauf hingewiesen, daß ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland unerwartet anfallende Ausgaben nicht bestreiten kann. In Europa liegt die durchschnittliche Zahl von Menschen in prekären Verhältnissen bei 40 Prozent. Aber die Lage in den östlichen EU-Ländern ist noch um einiges brutaler: In Ungarn zum Beispiel können 75 Prozent der Menschen unerwartete Ausgaben nicht bezahlen.

Leben die Menschen nach der kapitalistischen Umgestaltung realsozialistischer Verhältnisse besser? Profitiert die Bevölkerung vom EU-Beitritt? Die Stimmung in den Ländern ist von Resignation geprägt. Waren sie bis 1989 nur äußerst beschränkt in der Lage, auf Politik und Wirtschaft Einfluß zu nehmen, fühlen sich große Teile der Bevölkerung im neuen Jahrtausend – bis auf wenige Gewinner – als Opfer eines Beutezugs mächtiger Konzerne und skrupelloser Politiker. Sie sind Verlierer in einem Prozeß, den sie nicht beeinflussen können. Eine deprimierende und brisante Stimmungslage: ausgenutzt zu werden und nichts daran ändern zu können.

Fachleute in psychosozialen Berufen kennen diese fatalistische Stimmung gut, besonders bei mißbrauchten Frauen: Jeder Mißbrauch ist eine tiefe körperliche und seelische Verletzung und hinterläßt Selbstzweifel und depressive Stimmungen. Oft erfüllt sich die Hoffnung auf einen neuen Partner nicht, im Gegenteil: Der Mißbrauch wiederholt sich und verstärkt das Gefühl, nichts wert zu sein. Benutzt zu werden drückt brutale Mißachtung aus; die Betroffenen verlieren die Selbstachtung und klammern sich an den nächsten, der Stärke verkörpert und Schutz verspricht.

Die geringe Wahlbeteiligung ist Ausdruck der Zweifel, mit der Wahlentscheidung tatsächlich Einfluß nehmen zu können. Das Phänomen ist bekannt. In Deutschland sind nach einer Umfrage nur vier Prozent der Bevölkerung der Überzeugung, durch Wahlen in starkem Maß die Politik beeinflussen zu können. Wenn Menschen in materieller Armut leben und sozial abgehängt sind, gehen sie nicht zur Wahl: »Menschen mit geringem Einkommen und Arbeitsuchende sind politisch weniger interessiert und aktiv als Personen oberhalb der Armutsrisikoschwelle sowie Erwerbstätige«, schreibt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Die vorherrschende Politik kümmert sich erst dann um das Problem, wenn die Menschen anfangen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen; dann werden sie zur Bedrohung für die Elite.

Auch für die Strategen der EU-Politik scheint es keines Nachdenkens wert zu sein, daß ihre Legitimation schwindet, weil die wenigsten Menschen noch das Gefühl haben, eine Wahl zu haben. Demokratie muß auf Selbstbestimmung gegründet sein; nur dann ist das Volk souverän. Doch die neoliberale Politik der EU-Kommission, geprägt von den Tausenden Lobbyisten der multinationalen Konzerne, fördert die Freiheit und Selbstbestimmung nur für diese mächtigen Akteure. Das ist der Grund für die geringe Wahlbeteiligung.

Sind die Menschen in Tschechien, Ungarn, Slowenien und so weiter europafeindlich? Nein, sie sehnen sich geradezu nach einem Europa, in dem sie endlich Wohlstand, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung erfahren können. Gegenwärtig, in einem Europa der konzernbestimmten Interessen, erleben sie das Gegenteil: wachsende Armut und Ungleichheit, Verhältnisse, in denen sie für fremde Interessen ausgenutzt werden und mitnichten selbstbestimmt leben. Die Menschen werden dann zur Wahl gehen, wenn sie wissen, daß ihre Meinung ernst genommen und ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden.