Entrüstung, Empörung, Entsetzen – so kann man die Reaktion der deutschen Medienlandschaft auf das Europawahlergebnis in Frankreich beschreiben. Fast 26 Prozent jener dreiundvierzigeinhalb Prozent Franzosen, die noch zur Wahl gingen, haben für den Front National gestimmt.
Über das Ergebnis kann jedoch nur erstaunt sein, wer die letzten Jahre auf einer einsamen Insel verbracht hat. Selten war ein »erdrutschartiger« Sieg so prognostizierbar wie dieser. Im Frühjahr konnte der FN trotz Mangel an Kandidaten schon bei den Kommunalwahlen punkten. Es war daher klar, daß bei den Europawahlen, für die die Nationalfront allemal die nötigen Kandidaten stellen konnte, der Sieg vorprogrammiert war.
Der Triumph der Marine Le Pen hat viele Ursachen: Die etablierten Parteien sind schwach und verbraucht, Opposition und Regierung sind seit dem Rechtsruck von Präsident François Hollande noch weniger zu unterscheiden, neue Parteien gibt es kaum. Wütende und verzweifelte Franzosen, die am Wahlsonntag nicht zu Hause blieben, griffen daher zur FN-Keule, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Der FN ist immer noch zuallererst eine Protestpartei, ähnlich wie 2001, als Jean-Marie Le Pen es bei den Präsidentschaftswahlen bis in die Stichwahl schaffte. Aber das wird kaum so bleiben. Nicht nur durch den Führungswechsel von Le Pen Vater zu Le Pen Tochter ist die Partei wählbarer geworden. Sie erscheint vor allem jüngeren Wählern als ernsthafte Alternative, die ihre Chance bekommen soll. Die Partei setzt deshalb konsequent auf Jungwähler und scheut weder Kosten noch Mühe, auch entsprechende Kandidaten auszubilden und aufzustellen. Daß der FN noch nie an einer Regierung beteiligt war, gereicht ihm jetzt zum Vorteil. Er ist sozusagen unbefleckt, frei von Skandalen und kann für nichts verantwortlich gemacht werden.
Mit dem Wahlergebnis hat die Partei jene Schwelle überschritten, die für einen festen Platz in der Parteienlandschaft nötig ist. Sie ist in der französischen Gesellschaft angekommen. Das größte Problem des Front National bleibt der Personalmangel. Das liegt vor allem daran, daß die Partei sehr straff und hierarchisch organisiert ist und aus ihrer jüngeren Geschichte eine panische Angst vor Abweichlern hat. Es werden also Funktionäre gebraucht, die der Parteichefin bedingungslos ergeben sind und dennoch einigermaßen selbständig die Linie der Partei vertreten können. In den anderen Parteien wird Loyalität mit lukrativen Posten in Regierung und Verwaltung belohnt, aber dies kann die Le-Pen-Partei (noch) nicht bieten. Man darf daher gespannt sein, wie die 24 Abgeordneten im EU-Parlament auftreten werden. Ein erster Vorgeschmack: Zwei weibliche Abgeordnete verzichteten überraschend zugunsten männlicher Kandidaten auf ihr Mandat, obwohl sie einen besseren Listenplatz hatten. Die Entscheidung soll Marine Le Pen selbst getroffen haben.
Aber warum haben die Franzosen nicht wie die Griechen einer linken Alternative den Vorzug gegeben? Immerhin gibt es den Front de gauche des Jean-Luc Mélenchon, ein Parteienbündnis, welches der deutschen Linkspartei nahesteht. Dieses Bündnis erzielte jedoch nur magere 6,6 Prozent. Das Desaster der sozialistischen Regierungspartei, die immer noch links verortet wird, wirkt sich auch auf die Linksfront aus, da sich diese nicht deutlich genug von den »Sozialisten« distanziert hat. Mitgefangen, mitgehangen.
Interessanter ist der Ansatz einer neuen linken Strömung, welche sich erst Ende 2013 als Partei formiert hat. Nouvelle Donne – der Name läßt sich mit »neuer Anfang« oder »neue Rollenverteilung« übersetzen – basiert auf den Ideen des vor einem Jahr verstorbenen Stéphane Hessel, der durch sein Manifest »Indignez-vous!« (»Empört Euch!«) bekannt geworden war. Neben seiner Witwe Christiane findet man auf der Unterstützerliste bekannte Namen wie den Soziologen Edgar Morin sowie viele Wissenschaftler, Ärzte und Lehrer. Das Grundübel sieht diese kleine Partei im Demokratieabbau, der Macht der Lobbyisten und des Finanzkapitals sowie in der Sparpolitik. In pfiffigen Wahlspots wurde für eine Umverteilung der Arbeit geworben, damit nicht die einen 50 Stunden pro Woche arbeiten, die anderen 0, für ein neues Wohnungsbauprogramm, für den Euro-Franc, einer Zweitwährung neben dem Euro, für die Bevorzugung kleiner und mittlerer Unternehmen. Nouvelle Donne erreichte bei den Europawahlen aus dem Stand drei Prozent, kommt aber wegen der in Frankreich existierenden Fünf-Prozent-Hürde nicht ins EU-Parlament. In einer Pressemitteilung nach der Wahl heißt es nüchtern: »Wenn wir heute die Stunde des Front National erleben, müssen wir jetzt für die Zeit danach arbeiten, Zeit für konkrete Lösungen, Zeit für notwendige Reformen. Nouvelle Donne – wir fangen jetzt erst richtig an.«