Ein Jahr ist es her. Am 28. Mai begann die Protestwelle gegen ein geplantes Bauprojekt unmittelbar neben dem Taksim-Platz in Istanbul auf dem Gelände des Gezi-Parks. Ein Einkaufszentrum sollte entstehen, dessen Fassade an die dort im Jahre 1940 abgerissene osmanische Topçu-Kaserne erinnern sollte. Der Widerstand kam nicht von ungefähr, denn gegen die Umstrukturierung des Gezi-Parks hatte sich eine »Taksim-Solidaritätsgruppe«, die Vereine, Gewerkschaften, Ärzte- und Architektenvereinigungen sowie andere Berufsverbände und politische Gruppen umfaßte, zur Wehr gesetzt. Im Fokus ihrer Arbeit stehen auch heute noch in Planung befindliche Großprojekte wie der dritte Istanbuler Flughafen, die dritte Bosporusbrücke und ein Stichkanal zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmarameer.
Der unglaublich harte Polizeieinsatz zur Räumung des Parks am 31. Mai 2013 hatte zu landesweiten Demonstrationen geführt, der Gezi-Park wurde zu einem Symbol zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen den autokratischen Regierungsstil des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung).
Auf Einladung der Hamburger Rosa-Luxemburg-Stiftung wollten im Mai 2014 Seminaristen, darunter auch ich, in der Türkei der Frage nachgehen, wie nachhaltig die Gezi-Park-Bewegung wirkt, schließlich hatte Erdoğan – Wahlfälschungen hin oder her – die Kommunalwahlen im März eindeutig für sich gewinnen können. Die oppositionelle HDP (Halkların Demokratik Partisi, deutsch: Demokratische Partei der Völker) war zwar ins Rennen geschickt worden, konnte aber nur begrenzt Stimmen erzielen. Sie wurde Ende Oktober 2013 gegründet und sieht sich selbst als politische Fortsetzung der Gezi-Proteste. Tatsächlich versammelt die HDP unter ihrem Dach sozialistische Kleinstparteien, Aktivisten aus der Umwelt-, Frauen und Homosexuellenbewegung und Vertreter religiöser und ethnischer Minderheiten. Aber die HDP wird in erster Linie als pro-kurdischer Ableger der BDP (Barış ve Demokrasi Partisi, deutsch: Partei des Friedens und der Demokratie) gesehen und konnte – möglicherweise deshalb – in Istanbul lediglich vier Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Oder ist es ein Zeichen für das Verblassen der politischen Aufbruchstimmung? Es ist eher ein Zeichen dafür, daß es – wie auch in Deutschland – bei Bewegungsaktivisten Vorbehalte gegenüber einer Vereinnahmung durch Parteien gibt, denn die Bereitschaft, den Protest auf die Straße zu tragen, ist nicht erloschen. Davon konnten wir uns ein Bild machen.
Gleich nachdem bekannt wurde, daß in der türkischen Bergarbeiterstadt Soma bei Izmir eine Explosion während des Schichtwechsels Teile des Bergwerks in Brand gesetzt hatte, flammten die Proteste wieder auf. 301 Bergarbeiter – darunter ein 10jähriger Junge (!) – waren ums Leben gekommen, und in die Trauer um die Toten mischte sich die Wut gegen die Betreibergesellschaft Soma Kömür und die AKP, die ihre schützende Hand über die Betreiberholding gehalten hatte. Erst im April hatte die AKP im Parlament einen Antrag der Opposition abgelehnt, die eine Kontrolle des Bergwerks nach dessen Privatisierung einforderte. Der Chef der Soma Holding, Alp Gürkan, hatte sich gerühmt, daß nach der Privatisierung die Produktionskosten drastisch gesenkt werden konnten. Daß zum Zeitpunkt des Explosion mehr als 780 Arbeiter unter Tage waren, hat auch damit zu tun: Zum Schichtwechsel waren zwei Schichten gleichzeitig unter Tage. Die Wut der Bergleute gipfelte in dem Vorwurf, daß die Arbeitsbedingungen und der Zustand der Grube maßgeblich zum Unglück beigetragen hätten. Erste Gutachten zeigen, daß schon seit zwei Monaten erhöhte Monoxid-Werte gemessen wurden. Immerhin müssen die Verantwortlichen der Firma sich jetzt vor Gericht verantworten.
Sofort fanden sich Gewerkschafter und Bewegungsaktivisten in der Istiklal Caddesi, der Istanbuler Flaniermeile, vor den Toren des Galatasary Lisesi zu einer Mahnwache ein. Mit geschwärzten Gesichtern und Schutzhelmen saßen sie schweigend auf dem Boden. Für jeden Verstorbenen stellten sich Frauen und Männer mit selbstgemalten Plakaten hinzu, toleriert von der Polizei. Vor dem Firmensitz im Nobelviertel Levent hatte die Polizei die Straße abgesperrt. Es war aber möglich, dort zu demonstrieren. Trauernde legten Blumen und schwarze Fahnen ab und skandierten immer wieder: »Kaza değil, cinayet!« – Das ist kein Unfall, das ist Mord! Die Demonstranten spielen damit auf Äußerungen der türkischen Regierung anläßlich eines Grubenunglücks vor vier Jahren an, als der damalige türkische Arbeitsminister Ömer Dincer sagte, die Toten hätten nicht leiden müssen und seien einen schönen Tod gestorben.
Nachmittags folgten Zehntausende dem Aufruf der Gewerkschaften zu einer Demonstration in der belebten Einkaufsstraße zum Taksim-Platz, doch die Polizei hatte bereits auf der Höhe der Mahnwache die Straße gesperrt, die von Wasserwerfern gesäumt war. Heute sei es sicher möglich, den Protest auf den Taksim-Platz zu tragen, versicherten uns Demonstranten, die sich freuten, daß wir uns aus Solidarität einreihten. Die Schockstarre über das Ausmaß des Unglücks würde sicher zu einer Zurückhaltung der Polizei beitragen.
Doch weit gefehlt. Ein erster heller Knall – Gasgranaten zischen durch die Straße, die Wasserwerfer setzen sich in Bewegung, dann wird wahllos auf Demonstranten, Passanten, Touristen geschossen. In den Straßenschluchten liegt beißend das Gas, und prügelnde Polizisten verfolgen in den engen Seitengassen die flüchtenden Demonstranten bis hinunter nach Kadıköy an das Bosporusufer. Wir stehen da – neben unbeteiligten Touristen, die nicht wissen, wie ihnen geschieht –, husten, die Augen tränen und werden von einheimischen Demonstranten notversorgt.
Nicht anders ging es in Ankara, Izmir und auch Soma selbst zu, keine Spur von Pietät seitens der Polizei. Ihr Hauptaugenmerk scheint darauf gerichtet zu sein, zu verhindern, daß die Zivilgesellschaft sich den öffentlichen Raum zurückerobert. Doch das Ansehen Recep Tayyip Erdoğans und der AKP hat in diesen Tagen stark gelitten, sie werden als Mitverantwortliche für das Grubenunglück gesehen. Und das, was während der Gezi-Park-Proteste fehlte, der Schulterschluß mit den Gewerkschaften, trat jetzt ein. Ein wichtiger Schritt, um dem autoritären und selbstgefälligen Regierungsstil Erdoğans etwas entgegenzusetzen, betonten am Tag nach den Protesten die Vertreter von Bir Umut, einer Menschenrechtsgruppe, die jährlich einen Bericht zu Arbeitsunfällen, Kinderarbeit und illegaler Beschäftigung erstellt. Das Jahrbuch 2013 ist gerade erschienen: Bir Umut beklagt für das vergangene Jahr 1.235 Tote.