Als das Berliner Denkmal für die sechs Millionen jüdischen Opfer des deutschen Faschismus konzipiert wurde, lautete ein Argument der Gegner, die Fläche sei mit gut 19.000 Quadratmetern viel zu groß. Inzwischen ist die Kritik verstummt, aber der Besuch hat nachgelassen. Das von dem US-amerikanischen Architekten Peter Eisenman entworfene Stelenfeld am Brandenburger Tor gegenüber dem Tiergarten – eine wogende Beton-Landschaft, als begehbare Skulptur wirkungsvoll – gibt keine direkte Auskunft über den Holocaust. Immerhin: Im hinteren Teil führt eine Treppe zu vier kleinen Informationsräumen im Keller, wo man knapp und beeindruckend erfährt, wie Juden in Deutschland und in den besetzten europäischen Ländern entrechtet, geknechtet und ermordet wurden.
Zu groß geraten? Nicht im Vergleich zu einer anderen Berliner Gedenkstätte, die sich 1,4 Kilometer lang beiderseits der Bernauer Straße vom Nordbahnhof bis zum Mauerpark erstreckt und in mehrere Nebenstraßen hineinreicht. Um was es hier geht, zeigen schon die Bilder und Aufschriften, mit denen die Giebelwände umstehender Häuser bemalt sind. Es ist die großartige »Gedenkstätte Berliner Mauer«, die an die mehr als 100 Todesopfer an der Berliner Mauer erinnert. Bilder jedes einzelnen Opfers hängen im zentralen Karree, das von erhalten gebliebenen Mauerteilen und zwei quergestellten, sie um mehr als das Doppelte überragenden rostigen Stahlplatten gebildet wird. Die knapp drei Meter hohe Mauer war offenbar nicht hoch genug für diese Anlage der Berliner Architektengemeinschaft Kohlhoff.
Rostiger Stahl prägt die ganze Anlage – wofür die Besucher keine Erklärung erhalten. Mit rostigem Stahl sind die Umrisse von Grenzbefestigungen dargestellt. Ebenfalls aus rostigem Stahl ist ein Beobachtungsturm der Grenzwächter nachgebildet. Rostige Stahlplatten im grünen Rasen zeigen den Verlauf von Fluchttunneln. Mit rostigem Stahl ist auch der Weg belegt, auf dem einst die Grenzwächter patrouillierten. Und auf den Bürgersteigen der Bernauer Straße und ihrer Nebenstraßen liegen viele runde leicht rostige Stahlscheiben mit 25 Zentimetern Durchmesser, alle numeriert und folgendermaßen beschriftet: »24. 5.1973 Festnahme Jürgen B.« oder »19.9.1961 Flucht Familie B.« oder »8. 9.1961 Flucht ein Jugendlicher«. Die Scheibe D 420 erinnert an »Fluchtversuch eine Person«, D 427 an eine »Auseinandersetzung über die Mauer«, die hier am 3.10.1962 stattgefunden habe, D 437 an »Kontakte und Proteste« am 2.9.1961.
Neben diesen »Ereignismarkern« verschwinden die zehn mal zehn Zentimeter kleinen Stolpersteine, die der Künstler Günter Demnig vor einigen Häusern zum Gedenken an nach Auschwitz deportierte und dort ermordete Juden verlegt hat. Eine Stahlscheibe braucht etwa so viel Platz wie vier Stolpersteine.
Noch viel größer als die »Ereignismarker« sind Granitplatten auf der Bernauer Straße mit einheitlichem Text »Dem Opfer der Schandmauer Ida Siekmann + 22.8.1962 gewidmet«, »Dem Opfer der Schandmauer Bernd Lünser gewidmet«, »Dem Opfer der Schandmauer Olga Segber gewidmet«. Auf der anderen Straßenseite steht ein mächtiger Granitblock mit der Widmung: »Den Opfern der Mauer zum ehrenden Gedenken«, genannt sind Ida Siekmann, Olga Segber und einige mehr, auch ein »Unbekannt«. Vor dem Gedenkstein hat, während ich mir Notizen mache, eine Gruppe von Fahrrad-Touristen gehalten. Ihr Führer erklärt: »Letztes Maueropfer war ein Ballonfahrer aus Ost-Berlin, der über West-Berlin abstürzte, kurz bevor er auf DDR-Gebiet gelandet wäre.«
Manche Einzelheiten erfährt man an rostbraunen Säulen, an denen man auf Knopfdruck Originaltöne hören und Filmausschnitte sehen kann: Augenzeugenberichte, Reportagen, Politikerreden. Ein besonders einprägsames Bild, an mehreren Stellen des Geländes zu sehen, zeigt den Volkspolizisten Conrad Schumann, der im August 1963 über den Stacheldraht in den Westen sprang – ein Ereignis, das damals die West-Berliner Medien jubeln ließ. Die Illustrierte Berliner Zeitschrift erschien mit der ganzseitig gedruckten Parole »In die Freiheit mußt du springen«. An der Bernauer Straße, wo viele Häuser unmittelbar an der Grenze standen, war das Springen besonders einfach. Wochenlang stand dort auf westlicher Seite die Feuerwehr mit Sprungtüchern bereit, um Flüchtlinge aufzufangen – unter dem Gejohle vieler Schaulustiger.
Ida Siekmann wartete nicht aufs Sprungtuch, sondern warf Kissen aus dem Fenster, sprang hinterher und starb an den dabei erlittenen Verletzungen. Außer der Scheibe auf dem Bürgersteig und dem großen Granitstein gegenüber erinnert auch eine eigene rostbraune Säule an Ida Siekmann.
Große Publizität fand damals, vor nun mehr als 50 Jahren, der neunjährige Thomas Molitor, der mit einem Freund aufs Dach eines Grenzhauses geklettert war. Sein Freund zog sich zurück, Thomas dagegen sprang und landete heil im Westen. Bald wollte er aber heim zur Mutter. Darüber kam es zu einem wochenlangen politischen Ost-West-Gerangel, bis der Westen den Jungen freigab. Das Frontstadtblatt Telegraf titelte: »Den Kommunisten ist nichts heilig – Üble Schau um ein Kind«.
Schon wenige Tage nach dem Mauerbau – so erfahren die Besucher der Gedenkstätte, wenn sie sich genug Zeit nehmen – richtete der West-Berliner Senat das »Studio am Stacheldraht« ein. Fahrzeuge mit aufmontierten Lautsprechern sendeten täglich in Richtung Osten Appelle, Musik und Mauer-Nachrichten. Adressaten waren vor allem Polizisten und Grenzsoldaten, die zur Flucht aufgefordert wurden. Prompt erschienen auch auf Ost-Berliner Seite Lautsprecheranlagen, die das »Studio am Stacheldraht« übertönen sollten.
An mehreren Häusern in Nachbarstraßen studiere ich Tafeln mit Angaben über Fluchttunnel. Da steht: »Im Bereich der Bernauer Straße wurden mindestens zwölf Tunnel gegraben, von denen jedoch nur drei erfolgreich waren; die anderen Vorhaben scheiterten vor der Fertigstellung – »meist durch Verrat«, wie ich am Hause Schönholzer Straße 7 lese. Der 135 Meter lange Tunnel, der im Keller dieses Hauses endete, wurde wie die meisten Tunnel vom Westen her gegraben. Über die Fluchthelfer-Organisationen und über die Beträge, die sie kassierten, finde ich keine Informationen.
Der Buchladen im Besucherzentrum gegenüber dem Nordbahnhof bietet eine große Menge einschlägiger Literatur, zum Beispiel ganze Buchreihen aus dem Verlag Berliner Mauer und aus dem Christoph Links Verlag, der unter anderem das umfangreiche Werk »Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961 – 1989« herausgebracht hat. Die Autoren beziffern die Todesopfer auf 136 und sortieren sie folgendermaßen: »Flüchtlinge, die an der Berliner Mauer erschossen wurden, verunglückten oder sich das Leben nahmen, Menschen ohne Fluchtabsichten aus Ost und West, die im Grenzgebiet erschossen wurden oder verunglückten, Grenzsoldaten, die von Fahnenflüchtigen, Kameraden, Flüchtlingen, einem Fluchthelfer oder einem West-Berliner Polizisten im Dienst getötet wurden«. An einer der rostigen Säulen kann man sich per Knopfdruck alle Namen auch noch laut vorlesen lassen, jeweils mit Alter, Todesursache und Todesdatum, chronologisch angefangen mit Ida Siekmann. Mehr als 20 Opfer, erfährt man, sind Ertrunkene, darunter mehrere Kinder, das jüngste 15 Monate alt.
Mir geht durch den Sinn: In fast drei Jahrzehnten waren es in Berlin nicht ganz so viele Todesopfer wie in einer einzigen Nacht nahe der afghanischen Stadt Kundus. Der Bundeswehroberst Georg Klein (inzwischen zum General befördert) hatte das Massaker angeordnet. Für die Toten in Kundus, großenteils Kinder, die qualvoll verbrannten, steht bisher weder in Berlin noch in einer anderen deutschen Stadt ein Gedenkstein. Warum nicht? Das Mahnmal müßte ja nicht gleich 1,4 Kilometer lang sein. Verbietet sich aus irgendeinem Grunde ein solcher Vergleich? Was für ein Grund könnte das sein?
Hunderttausende Todesopfer, zumeist Zivilisten, forderte die US-amerikanische Kriegführung in Irak. Warum interessieren sich unsere großen Medien bis heute nicht für sie? Allein durch Drohnenbeschuß wurden in Jemen, Pakistan und anderen Ländern schon über 3.000 Menschenleben vernichtet. Zigtausende Flüchtlinge starben innerhalb zweier Jahrzehnte an der Südgrenze der Europäischen Union; sie hatten gehofft, in Europa besser leben zu können als in ihrer von europäischen und US-amerikanischen Konzernen ausgeplünderten Heimat – insofern vergleichbar den DDR-Flüchtlingen, die sich ebenfalls bessere Lebensbedingungen erhofft hatten.
Ich denke an die Mauer, die die USA an ihrer Grenze zu Mexiko gebaut haben, und an die israelische Mauer in Palästina, dreimal so hoch wie die Berliner. Unstatthafte Assoziationen? Ich erinnere mich auch an den Stacheldrahtverhau, den ich auf Zypern sah, nachdem das Militär unseres NATO-Partnerstaates Türkei die blockfreie Insel überfallen und ein Drittel des Landes besetzt hatte (bis heute), und an die versperrte Geisterstadt Famagusta. Und mir kommt der Gedanke, wie gut es wäre. hier in Berlin, wo die Mauer schon vor bald 25 Jahren abgerissen wurde, all der Grenzen zu gedenken, die noch überwunden werden müssen. Aber die Verantwortlichen, die die Gedenkstätte Berliner Mauer geschaffen haben und gegenwärtig noch ausbauen, werden schwerlich für diesen Gedanken zu gewinnen sein, denn sie verfolgen deutlich andere erinnerungspolitische Ziele: das Gedenken an die sechs Millionen ermordeten Juden und all die anderen Verbrechen des Nazi-Regimes zu überdröhnen mit dem – wie es an einer der überdimensionalen rostbraunen Wände steht – »Gedenken an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft«. Zu diesem erklärten Zweck haben die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin die Gedenkstätte errichtet. Antikommunismus auf ewig!
Darum werden Schulklassen und ausländische Besucher Berlins hierhergeführt. Darum wurde eine sechsgeschossige Aussichtsplattform errichtet. Darum ist auch für alle Bequemlichkeiten gesorgt: Mauer-Café, Ost-West-Café und Hotel Grenzfall, in dem sonntagsnachmittags Zeitzeugen von ihren »Aktionen gegen das SED-Regime« berichten (Eintritt fünf Euro, Kaffee und Kuchen inbegriffen). Gemeinsam mit einer evangelischen Kirchengemeinde veranstaltet die Stiftung Berliner Mauer auch ein »Tägliches Gedenken für die Todesopfer der Berliner Mauer«, wofür ein eigener Prospekt wirbt: »Im Mittelpunkt jeder Andacht steht die Biografie eines Mauertoten.« Das Veranstaltungsprogramm der Stiftung – gemeinsam mit anderen Verbänden und Institutionen wie Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Bundesstiftung Aufarbeitung, Deutsche Gesellschaft e.V. und so weiter – reicht von einer Sonderführung »Tunnelfluchten in der Bernauer Straße« über eine Schiffstour »Wasser- und Grenzgeschichten im geteilten Berlin« bis zu einer kostenfreien Kinderführung unter dem Motto »Wer will ›Mauerexperte‹ werden?« Und allen Besuchern prägen sich Wörter wie »Zonenregime«, SED-Diktatur«, »kommunistische Gewaltherrschaft ein – sie beantworten alle Fragen.
Übrigens findet sich auf halber Höhe der Bernauer Straße auch ein Souvenirladen. Man kann dort zum Beispiel Bierkrüge mit schwarz-rot-goldenem Aufdruck erwerben. So schöne Dinge gibt es in der Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas nicht – die vielleicht in nächster Zeit teilweise nicht mehr betreten werden darf, weil der Beton bröckelt. Man hatte billiges Material verwendet. Der Stahl der Gedenkstätte Berliner Mauer wird viel, viel länger halten.