2011 starb mit dem Briten Claude Stanley Choules in einem Pflegeheim im australischen Perth im Alter von 110 Jahren der letzte überlebende Soldat des Ersten Weltkriegs. Er starb als Pazifist. Drei Jahre zuvor war mit dem späteren Juristen Erich Kästner der letzte deutsche Veteran aus der Armee des Deutschen Kaiserreichs gestorben. Während Choules bei seinem Alter schummelte, um 1916 bereits mit 14 Jahren in die Royal Navy eintreten zu können, gehörte der 18jährige Kästner zum letzten Aufgebot.
Keiner von denen, die im August 1914 mit wehenden Fahnen hinaus ins Feld gezogen waren, im Herzen die Hoffnung, im Herbst wieder zurück in der Heimat zu sein, kann noch von jener Zeit zeugen. Keine/r der über 71 Millionen Kriegsmobilisierten lebt mehr, da mit der Engländerin Florence Green 2013 die letzte bekannte Veteranin des Ersten Weltkriegs starb, ebenfalls 110 Jahre alt. Sie hatte in der Women’s Royal Air Force gedient, einem Frauenzweig der Royal Air Force. Über neun Millionen fielen, über 21 Millionen wurden verwundet, hinzu kommen fast acht Millionen getötete Zivilisten.
Aber es gibt noch Feldpostbriefe, Tagebücher, Erlebnisberichte, Militärpapiere, Bildpostkarten, Fotos. Es gibt Romane, Erzählungen, Gedichte, Lieder, Gemälde, Filme und Reden, Aufrufe, Pamphlete, Verlautbarungen, Plakate.
Und es gibt die verwundete Erde, durchzogen von Schützengräben, durchbohrt von Gängen, als Erinnerungsort konserviert. Es gibt die großen Friedhöfe und die kleinen, stillen Gedenkstätten.
Die 100. Wiederkehr jenes August 1914, in dem der vierjährige Krieg begann, ist in diesem Jahr für Wissenschaftler und Publizisten, Medien und Verlage Anlaß, Zeit und Geschehnisse noch einmal ins Bewußtsein zu rücken. Aus der momentanen Kriegsbücherflut habe ich zwei Bücher herausgegriffen, darunter eine verdienstvolle Neuauflage.
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Der kleine gelbe Reclam-Band von den dummen Klugen mit »Aufrufen und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg«, zusammengestellt von dem Darmstädter Historiker Klaus Böhme, ist 1975 erstmals erschienen und liegt jetzt in zweiter Auflage vor. Neben der Einleitung Böhmes ergänzt ein Nachwort des Historikers Hartmann Wunderer die Quellensammlung.
»Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst erheben vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten … Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt, noch die Regierung, noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden.«
Dieser Aufruf, aus dem hier zitiert ist, eröffnet die Quellensammlung und soll den Tenor widerspiegeln, der die ihm folgenden Dokumente prägt. Auch wenn – Wunderer weist im Nachwort darauf hin – sicherlich nicht jeder Zuhörer oder Leser den Professoren und den ins selbe Propagandahorn stoßenden Organisationen, Verbänden, Institutionen kritiklos folgte, so spielten diese Repräsentanten der wilhelminischen Eliten mit ihrem apologetischen Bejubeln der kaiserlichen Kriegspolitik vor dem Hintergrund ihres hohen Ranges auf der sozialen Prestigeskala eine wichtige Rolle in der politischen Bewußtseinsbildung.
Unter allen deutschen Hochschulen nahm, schreibt Böhme in der Einleitung, »die Berliner Universität … in der Diskussion um die Kriegsprobleme die exponierteste Stellung ein« und war ein »exaktes Spiegelbild zu den politischen Bestrebungen innerhalb der Reichsleitung«. Am 20. November 1918 aber, nach Novemberrevolution und Thronverzicht des Kaisers und Waffenstillstand, forderten die schon Jahre zuvor von allen guten Geistern verlassenen Universitätslehrer eben dieser Universität »angesichts der ungeheuren Umwälzungen, die aus dem Welt- und Massenkriege hervorgegangen sind«, von dem neuen »Volksstaate« in einer Erklärung – na, was wohl? – »die Freiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft« zu bewahren.
Erinnert das nicht an Brechts »Anachronistischen Zug«? »Große Ratten/ Schlüpften aus gestürzten Gassen/ Folgend diesem Zug in Massen./ Hoch die Freiheit: piepsten sie/ Freiheit der Democracy.«
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Horst Lauinger leitet den Manesse-Verlag und hat wieder einmal einen Schatz gehoben: »Über den Feldern – Der Erste Weltkrieg in großen Erzählungen der Weltliteratur« heißt die im März erschienene »erste weltliterarische Gesamtschau«, die »über alle Fronten hinweg 70 Glanzstücke moderner Erzählkunst aus 16 Sprachen, viele davon in Erst- oder Neuübersetzung, versammelt«: Stefan Zweig, Tania Blixen, Marcel Proust, Boris Pasternak, Heimito von Doderer, Virginia Woolf, Guillaume Apollinaire, Joseph Conrad, Jorge Luis Borges, Isaak Babel, Bertolt Brecht, William Faulkner, Robert Musil, Gabriele d’Annunzio – der Platz reicht nicht aus, um das vielstimmige Ensemble aufzuzählen, das an diesem »universalen Epochenpanorama« mitwirkt. Kurzbiographien der Autoren vervollkommnen die Auswahl. Einfach großartig.
Nicht in der Auswahl, sondern im Nachwort, stehen die vielleicht anrührendsten Zeilen des ganzen Bandes, die ihren Verfasser, den Lieutenant Colonel John McCrae aus Ontario, unsterblich machten: »In Flanders fields the poppies blow/ Between the crosses, row on row…«. »Auf Flanderns Feldern« wurde zu einem der bekanntesten englischsprachigen Gedichte, und der Klatschmohn zur Blume des Gedenkens an das vergossene Blut.
Klaus Böhme (Hg): »Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg«, Nachwort Hartmann Wunderer, Reclam Universal Bibliothek, 253 Seiten, 7,80 €; Horst Lauinger (Hg.): »Über den Feldern – Der Erste Weltkrieg in großen Erzählungen der Weltliteratur«, Manesse, 784 Seiten, 29,95 €