Etwa fünfzig Senioren, teils in Rollstühlen und an Rollatoren, zogen Mitte Mai in Berlin-Neukölln zum Jobcenter, um lautstark gegen die Streichung von Pflegepersonal zu protestieren. Ein von Mietern verschiedener Seniorenwohnanlagen gegründeter Verein hatte einen Rundumservice mit Hilfe mehrerer sogenannter Ein-Euro-Jobber eingerichtet, um den Betroffenen einen Umzug in ein Pflegeheim zu ersparen. Die Weigerung der Behörde, die Langzeiterwerbslosen weiterzubeschäftigen, entzündete den Zorn der alten Menschen. Der Geschäftsführer des Jobcenters rechtfertigte sich, daß leider nur ein kleiner Teil der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen dem Seniorenbereich vorbehalten sei. Eine doppelt paradoxe Situation: Pflegeabhängige wettern gegen den »Unsozialstaat« und fordern die unterstützende Arbeit von Hilfskräften, die selbst diskriminiert werden und unter einer permanenten staatlichen Sanktionsdrohung stehen. Die Regierung kürzt den Jobcentern die Eingliederungsmittel, obwohl sie den Verbleib von pflegebedürftigen Menschen im häuslichen Umfeld fördern will. Die Erklärung ist einfach. Der Bundesrechnungshof hatte vor knapp fünf Jahren ein vernichtendes Fazit zur Vergabe der Ein-Euro-Jobs gezogen, weil sie den Langzeiterwerbslosen keine Brücken in den ersten Arbeitsmarkt bauten, vielmehr reguläre Arbeitsplätze verdrängten. Seitdem verfolgt die Regierung die Strategie, im Pflegebereich sozialversicherungspflichtige Niedriglohnjobs zu schaffen und zugleich für das ehrenamtliche Engagement zu werben.
Sie ist sich dabei einig mit unternehmensnahen Kreisen, die selbst einen Paradigmenwechsel in der Pflegepolitik herbeiführen wollen. So entwickelte die Bertelsmann Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Kuratorium Deutsche Altershilfe, der Sozialwirtschaft sowie Vertretern der Wissenschaft ein Konzept, das auf Pflegevermeidung setzt und eine konsequente Umsetzung des Prinzips der ambulanten Versorgung anstelle einer kostenträchtigen Heimunterbringung anstrebt. Es sollen keine zusätzlichen Gelder in die bestehenden Strukturen fließen, sondern die vorhandenen Mittel effizienter eingesetzt werden. Voraussetzung dafür ist eine kommunale Steuerung der Pflege auf Basis von regionalen Budgets. In die Pflicht genommen werden »neue lokale Verantwortungsgemeinschaften« in den städtischen Quartieren beziehungsweise Dorfgemeinschaften, bestehend aus Familien, Nachbarschaften, Ehrenamt und professionellen Dienstleistungen.
Um auf genügend engagierte Hilfskräfte zurückgreifen zu können, werden materielle Anreize geschaffen. Die Monetarisierung des Ehrenamts verflüssigt dabei die Grenze zum regulären Arbeitsmarkt, um einen expandierenden Niedriglohnsektor auch jenseits der arbeitsrechtlichen Standards zu etablieren. Nicht wirklich neu ist, daß Bertelsmann & Co besonders auf noch leistungsfähige ältere Frauen bauen. Denn pflegerische oder betreuende Tätigkeiten zeigen sich nur wenig anschlußfähig für das »neue« Ehrenamt von jungen Menschen, die auf Mitgestaltung, Selbstverwirklichung und Eigensinn abzielen.
Der Trend zu einer Verschränkung von Erwerbsarbeit und ehrenamtlichem Engagement. zeigt sich darin, daß die Bundesregierung 2013 die Übungsleiter- und Ehrenamtspauschalen erhöhte. Immer häufiger werden zudem Minijobs mit der Übungsleiterpauschale kombiniert. In der ambulanten Pflege findet diese Konstruktion heute flächendeckend Anwendung. Dabei wird eine Erwerbstätigkeit zugleich als ehrenamtliche Leistung ausgewiesen, um zusätzlich 2.400 Euro im Jahr abgabenfrei auszahlen zu können. Zum anderen bietet seit 2011 der Bundesfreiwilligendienst arbeitnehmerähnliche Beschäftigungsverhältnisse an. Hier können Menschen ohne Altersbegrenzung in der Regel für zwölf Monate und maximal 363 Euro Taschengeld pro Monat in sozialen, ökologischen und kulturellen Bereichen tätig werden. Ein großer Teil der »Bufdis« sind Langzeiterwerbslose, der Anteil der Personen über 27 Jahren steigt kontinuierlich an.
Die herrschende Politik eines »Welfare-Mixes« wird auch von prominenten Wissenschaftlern gestützt, die das Modell einer Gesellschaft propagieren, in der »sorgende Gemeinschaften« die Verantwortung übernehmen und der Staat zurücktritt. Zwei Beispiele: Der mit der Bertelsmann Stiftung kooperierende Freiburger Sozialexperte Thomas Klie greift in seinem Buch »Wen kümmern die Alten« das Bekenntnis des ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf zum Subsidiaritätsbegriff auf und unterstützt auch dessen Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens als Voraussetzung für eine bessere Einbindung ehrenamtlicher Arbeit in der Pflege. Er verschweigt jedoch, daß Biedenkopf schon immer ein Verfechter des Kapitaldeckungsprinzips bei der Pflegeversicherung war und letztlich die Vision eines Staates vertritt, der nur noch die Erfüllung der Grundbedürfnisse sichert. Für Letzteren kommt eine staatliche Umverteilungspolitik einer Vormundschaft über freie Bürger gleich, so daß die garantierte Grundsicherung entsprechend knapp zu bemessen ist. Auch der mittlerweile über 80jährige Klaus Dörner, Psychiater, Soziologe und Pionier der Ambulantisierung, gehört zu denjenigen, die sich zwar für eine menschenwürdige Pflege einsetzen, dabei aber die Arbeitsbedingungen der Helfenden ausblenden. Er will mit einem Bürger-Profi-Mix betreute Wohngruppen schaffen und Pflegeheime in absehbarer Zeit ersetzen. Nicht die Profis, sondern die informell Helfenden sollen den Pflegeprozeß dominieren. Auch er setzt auf die Menschen im »dritten Lebensalter«, das heißt Frauen ab dem 60. Lebensjahr, die sich für die hochbetagten Pflegebedürftigen engagieren sollen. Zudem lobt er das Projekt »Bürgerarbeit«, mit dem das Städtchen Bad Schmiedeberg in Sachsen-Anhalt ab 2006 Erwerbslose zu einem befristeten sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz auch im Pflegesektor verholfen hatte. Er ignoriert dabei allerdings den geringen Lohn (maximal 975 Euro brutto) sowie den »Workfare-Charakter« des Modellprojekts (unter anderem Sanktionen bei Ablehnung).
Das große Interesse vieler Menschen an ehrenamtlicher Arbeit hat also nur wenig mit einer gut entwickelten Engagementkultur zu tun. Vor allem viele Erwerbslose in Ostdeutschland sind auf entlohnte informelle Tätigkeiten angewiesen, weil die reguläre Erwerbsarbeit fehlt und die Grundsicherung nicht reicht. Freiwilligen-
agenturen übernehmen für sie faktisch die Funktion der Arbeitsvermittlung. Den Gipfel des Zynismus bildet die Strategie, ältere Menschen, die sich zu ihrer Rente noch Geld hinzuverdienen müssen, als festen Baustein in die Betreuungsarbeit einzubeziehen. Auf diese Weise wird eine Zivilgesellschaft staatlich verordnet, die mit der im Diskurs gefeierten Selbstermächtigung der Bürger nicht das Geringste zu tun hat.