Unglaubliche 36 Millionen Überstunden schieben die Beschäftigten in den Krankenhäusern vor sich her, durchschnittlich mehr als 32 Stunden pro Krankenschwester oder -pfleger. Das ist das Ergebnis einer aktuellen bundesweiten Befragung von ver.di in 295 Krankenhäusern, die Anfang Mai im Rahmen einer Protestaktion am »Tag der Pflege« vor dem Bundesgesundheitsministerium der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Die Gewerkschaft berichtet, dass zusätzlich zu unvorhersehbaren Überstunden bereits wegen Personalmangels regelmäßig vier Überstunden pro Beschäftigten in die Dienstpläne eingestellt werden. Ohne das zusätzliche Engagement des Pflegepersonals würde das System Krankenhaus nicht mehr funktionieren. Um Überstunden und Überlastung dauerhaft zu vermeiden, sind 17.800 zusätzliche Stellen in Krankenhäusern notwendig. Unter den derzeitigen Bedingungen macht Arbeit im Gesundheitswesen krank und ist für die Patienten oft gefährlich!
An der Berliner Charité wurde dazu um einen Tarifvertrag gekämpft, der eine Mitbestimmung bei der Personalbemessung ermöglichen soll (TV MGM Charitè – Mindestbesetzung und gesundheitsfördernde Maßnahmen). Als erste Schritte wurden bereits vor zwei Jahren alle Auszubildenden sowie die befristet beschäftigten Pflegekräfte und Hebammen unbefristet eingestellt oder übernommen, 80 Beschäftigte wurden neu beziehungsweise zusätzlich eingestellt.
Weil der Arbeitgeber die Rechtmäßigkeit des dazu notwendigen Arbeitskampfes anzweifelte, wurden Gutachten eingeholt. Auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages prüfte und stellte fest, »dass Fragen der Personalbemessung zu den tarifvertraglich regelbaren Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen entsprechend § 9 Abs. 3 Grundgesetz gehören, denn ... Arbeitsablauf, -verteilung und -belastung werden unmittelbar durch die Personalbemessung bestimmt und gehören zum verfassungsrechtlich verbürgten Mandat tarifautonomer Gestaltung der Arbeitsverhältnisse«. Und das Arbeitsgericht entschied pro ver.di: »Die unternehmerische Freiheit hört da auf, wo der Gesundheitsschutz der Beschäftigten beginnt.«
Den Blick nun auf die gesamte Volkswirtschaft gerichtet, ergeben sich großartige Möglichkeiten: Mehr als zwei Drittel der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer möchten gern kürzer arbeiten, als sie es tatsächlich tun. 23 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse weisen überlange Arbeitszeiten von 45 Stunden pro Woche und mehr auf. 17 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten geben an, mehr als 48 Stunden pro Woche zu arbeiten. Das bedeutet: Jede/r sechste Beschäftigte in Deutschland arbeitet mehr als gesetzlich zulässig. Egal, ob bezahlt oder unbezahlt: Jeder Arbeitnehmer in Deutschland hat im vergangenen Jahr im Durchschnitt fast 50 Überstunden geleistet (DGB-Index Gute Arbeit). Über zwei Milliarden Überstunden werden so pro Jahr den Beschäftigten in allen Industrie- und Dienstleistungsbereichen abverlangt und – oft aus der Not heraus – geleistet. Das entspricht etwa einer Millionen Vollzeitarbeitsplätze. Ohne das zusätzliche Engagement der Beschäftigten würde das System Profitmaximierung nicht funktionieren. Wie viele Arbeitsplätze könnten erst geschaffen werden, würden alle die »kurze Vollzeit« von durchschnittlich 30 Stunden pro Woche arbeiten können? Würde die Arbeitszeit der 22 Millionen Menschen, die in Vollzeit beschäftigt sind, von durchschnittlich 39 Stunden auf 30 Stunden reduziert, würden weitere 750.000 Arbeitsplätze in »kurzer Vollzeit« entstehen, beziehungsweise Millionen Menschen in unfreiwilliger und unauskömmlicher Teilzeitarbeit könnten in die »kurze Vollzeit« wechseln: Kein Stress mehr, keine psychischen Erkrankungen, Erwerbslosigkeit wäre fast vollständig überwunden, es gäbe kein Elend mit »Hartz IV«.
Eigentlich ganz einfach und volkswirtschaftlich sinnvoll! Aber das Einfache ist oft schwer zu machen, wie Brecht im Gedicht »Lob des Kommunismus« vermerkte: »Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen. Aber wir wissen: Er ist das Ende der Verbrechen. Er ist keine Tollheit. Er ist nicht das Chaos, sondern die Ordnung. Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist.«
Voraussetzung für solch erfolgreiche Aktionen sind, am Beispiel der Charité, eine aktive gewerkschaftliche Betriebsgruppe und ein möglichst großer Kreis von Unterstützer_innen aus der Bevölkerung. Es bedarf eines Konzeptes, das das Direktionsrecht und die Verfügungsgewalt der Arbeitgeber über den Einsatz des Kapitals, über das Was und Wie der Produktion in Frage stellt, eines Konzeptes, bei dem es über Wirtschaftsdemokratie zur Selbstbestimmung der Produzenten geht!