Am 31. März 1961 wurde in Dortmund eine Autorengruppe gegründet, die sich aufmachte, eine große Lücke in der Nachkriegsliteratur zu schließen. »Dortmunder Gruppe 61« nannte sie sich in deutlicher Anlehnung an die bekannte »Gruppe 47«.
Alle möglichen Themen wurden damals literarisch gestaltet, jener Bereich aber, der das Leben der Menschen entscheidend prägt, tauchte so gut wie gar nicht auf, die Arbeitswelt nämlich. Ansätze dazu hatte es zwar auch vorher gegeben, aber entweder wurden die Texte wie der Roman von Siegfried Lenz »Der Mann im Strom« wenig beachtet, oder es war die pathetische Arbeiterdichtung mit ihrem quasi-religiösen Tonfall, die nicht zu Unrecht ein Nischendasein führte. Sich von dieser Tradition abzusetzen war die zweite Aufgabe, der sich die Gruppe verpflichtet fühlte. Ihre Autoren sprachen denn auch ungern von Arbeiterliteratur oder gar von Arbeiterdichtung, die sie schreiben wollten, sondern von Industrieliteratur.
Die Zeit, ein solches Projekt anzugehen, war 1961 wirklich reif. Im Ruhrgebiet zeigte die Wohlstandsfassade der Bundesrepublik mit dem beginnenden Zechensterben erste Risse, Arbeitslosigkeit wurde wieder eine reale Gefahr, andererseits hatte die DDR mit dem Bitterfelder Weg 1959 (»Greif zur Feder, Kumpel«) die Darstellung der Arbeitswelt zum programmatischen Schwerpunkt erhoben. So ganz ohne Alternative wollte und sollte die Bundesrepublik nicht dastehen.
Die Initiative zur Gruppengründung ging von dem jungen Bergmann Max von der Grün und dem Dortmunder Bibliothekar Fritz Hüser aus. Von der Grün war Anfang der fünfziger Jahre aus Bayreuth ins Ruhrgebiet gekommen, in die damals selbständige Gemeinde Heeren, die heute zu Kamen gehört. Auf Zeche Königsborn II/V war er bei der gefährlichen Arbeit verschüttet worden und hatte darüber seinen ersten Roman geschrieben: »Männer in zweifacher Nacht«. Bei der Suche nach Unterstützung für sein weiteres Schreiben stieß er unweigerlich auf Fritz Hüser, einen ganz und gar ungewöhnlichen Bibliothekar. Hüser hatte seine Büroräume in der Dortmunder Stadtbibliothek teilweise zweckentfremdet und alles gesammelt, was zum Thema Arbeiterliteratur erschienen war. Deshalb kannte er auch die meisten Autoren, die über dieses Thema schrieben. Die Idee, dass sich mal alle treffen sollten, um sich durch Kritik und Hinweise gegenseitig Hilfestellung zu leisten, war schnell geboren.
Am Karfreitag 1961 kam man erstmals zusammen und beschloss, solche Treffen regelmäßig abzuhalten. Drei Treffen im Jahr wurden zur Tradition, am Karfreitag, am 17. Juni und am Buß- und Bettag. Nicht zufällig waren es alles Feiertage, die Gruppenmitglieder waren schließlich berufstätig.
Einige von ihnen sind bekannte Autoren geworden. Max von der Grün vor allem, dessen Romane die deutsche Nachkriegsliteratur bereichert haben, aber auch Günter Wallraff, Angelika Mechtel oder Josef Reding.
Von Anfang an gab es Kämpfe um das Programm der Gruppe. Sie verpflichtete sich auf eine »literarisch-künstlerische Auseinandersetzung mit der industriellen Arbeitswelt«, aber eine Parteinahme für die Arbeiter, etwa im gewerkschaftlichen Sinne, gar eine soziale Umgestaltung der Gesellschaft, lehnte sie ab. Max von der Grün bekämpfte vehement solche Positionen. Literatur, meinte er, wäre mit diesem Anspruch überfordert.
Kritik, und zwar heftige, mussten die 61er trotzdem einstecken. Günter Zehm von der Welt war dafür ein Paradebeispiel, ihm ging auch diese Ausrichtung viel zu weit. Mehrfach schrieb er äußerst abfällige Kritiken über die Bücher der Mitglieder.
Dass die Texte der Dortmunder Autoren trotzdem hochpolitisch waren, dass sie vor allem störten, merkte man an den Reaktionen der Betriebe, die sich in den Darstellungen erkannten, oder die, wie bei Wallraffs Industriereportagen, direkt angesprochen wurden. Es gab Prozesse und andere Versuche der Einschüchterung. Am deutlichsten wurde das an Max von der Grüns Roman »Irrlicht und Feuer«. Im Vorabdruck in einer Zeitschrift schildert er die Einführung eines neuen Kohlenhobels unter Tage, dessen Technik noch nicht ausgereift war. Es gibt viele blutige Arbeitsunfälle, bis irgendwann die Kette reißt und dem Steiger den Kopf abschlägt. Blut spritzt durch den Streb.
Die Firma Westfalia Lünen fand darin ihr Produkt dargestellt und klagte gegen Autor und Verlag. Die Industriegewerkschaft Bergbau und Energie versprach von der Grün juristischen Beistand, aber als die Verantwortlichen den ganzen Roman gelesen und die darin enthaltene Gewerkschaftskritik registriert hatten, ließen sie von der Grün im Stich. Um etwa 100.000 Mark ging der Streitwert, eine Summe, die der Bergarbeiter von der Grün niemals hätte aufbringen können, aber er wurde nicht verurteilt. Die Monate zwischen Anklage und Urteil waren ein Trauma, das von der Grün bis zu seinem Lebensende begleitet hat.
Die Autoren der Gruppe waren also politisch durch die realistische Darstellung des Arbeitsprozesses; aufgrund ihrer Ausrichtung auf eine »künstlerische« Auseinandersetzung, also auf Ästhetik, saßen sie trotzdem zwischen allen Stühlen. Wegen der Gesellschaftskritik gab es einerseits Kritik von der Unternehmerseite und aus dem bürgerlichen Literaturbetrieb, wegen der fehlenden Parteinahme für die Arbeiter zugunsten einer ästhetischen Ausrichtung gab es andererseits Kritik von links. Vielleicht ist Dortmunder Gruppe 61 auch deshalb, zerrieben zwischen zwei Extremen, nur zehn Jahre alt geworden.
Das Jubiläumsjahr sollte Anlass sein, auf einige Autoren hinzuweisen, die zu Unrecht vergessen sind. Etwa 35 Mitglieder hat die Gruppe im Laufe der Jahre gehabt, darunter Autoren, von denen heute kaum noch etwas bekannt ist. Aber der zweite herausragende Romanautor neben von der Grün, Bruno Gluchowski, verdient auf jeden Fall größere Beachtung. Herausragend sein Roman »Der Honigkotten«, ein Familienroman über die Zeit von 1912 bis 1924, der viel über die Enttäuschungen und Sehnsüchte der sogenannten kleinen Leute erzählt, die bei Gluchowski gar nicht so klein sind. »Der Durchbruch« schildert mit großer Spannung ein Bergarbeiterunglück unter Tage, eine Hörspielfassung läuft manchmal noch im Radio. »Blutiger Stahl« erschien zuerst in der DDR, dann in der BRD und zeigt die brutalen Arbeitsbedingungen im Stahlwerk. Es sind gut erzählte, handfeste Geschichten, die Gluchowski geschrieben hat und die in der gegenwärtigen, etwas biedermeierlichen Literatur fehlen.
Hans K. Wehren ist fast vergessen, aber er schrieb wirklich gute, knappe Gedichte, bildhaft, mit lakonischem Tonfall, die weit weg sind vom hymnischen Duktus der Arbeiterdichtung. Paul Polte verkörperte das sozialistische Element in der Gruppe. In der Weimarer Zeit hatte er zum Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller gehört, weshalb Hüser ihn gern als Ergänzung in der Gruppe haben wollte. Polte hat fast sein gesamtes Leben im Dortmunder Norden gelebt, im proletarischen Viertel und in direkter Nähe zur berüchtigten Steinwache, wo ihn die Nazis seiner antifaschistischen Texte wegen ein paar Jahre einsperrten und misshandelten. Seine Gedichte haben Witz, sind ironisch-liebevoll, aber niemals idyllisch. Brecht hat sie in seinem Arbeitsjournal gelobt.
Das Ende der Gruppe kam, als im März 1970 der »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« gegründet wurde. Der Kölner Erasmus Schöfer hatte zuletzt die Kritik an der Gruppe 61 wiederholt, die aber nicht von ihrem einmal beschlossenen Programm lassen wollte. Der Werkkreis hat dann das, was der Gruppe 61 von links als fehlend vorgeworfen wurde, als seine Ziele formuliert: die Parteilichkeit, die Arbeiterklasse als Lesepublikum, die Absicht, gerade Arbeiter als Produzenten der Arbeiterliteratur auszubilden. Mehr als 40 Jahre ist das jetzt auch schon her und damit ebenfalls Literaturgeschichte.