Innerhalb bestimmter Kreise des US-Establishments ist Hillary Clinton seit zwei Jahrzehnten Ziel von Beschimpfungen und Verunglimpfungen. Das begann während Bill Clintons erster Amtszeit, als seine Frau wegen ihres Einsatzes für eine Gesundheitsreform zur Zielscheibe wurde. Die Angriffe auf beide Clintons intensivierten sich, als Republikaner und andere hasssprühende rechte Kräfte Ende der 1990er Jahre jegliche fortschrittlichen Gesetzgebungsversuche bekämpften.
Andererseits ist Hillary Clinton fester Bestandteil des politischen Establishments mit engen beruflichen und persönlichen Verbindungen in die Geschäftswelt. Die Clintons unterstützen sowohl die militaristische Außenpolitik der USA als auch eine repressive Strafgesetzgebung und befürworten gegen Arbeiter gerichtete Tarifvereinbarungen und soziale Einschnitte. Wobei jede der eingeleiteten Reformmaßnahmen weg von einer umfassenden sozialen Absicherung und hin zu marktorientierten öffentlich-privaten »Lösungen« führt – ganz im Sinne des Neoliberalismus. Obwohl Hillary Clinton von der versammelten Rechten verdammt wird, genießt die Politikerin die Unterstützung von Machtzentren der Wall Street, der Hochtechnologieunternehmen, der Medien und des Handels sowie bedeutender Kräfte des Pentagons und der für Außenpolitik zuständigen Bereiche der US-Administration.
Der größte Teil der Führerschaft der Arbeiterbewegung, der Frauengruppen, der Bürgerrechts- und der Einwandererrechtsorganisationen unterstützt ebenfalls Hillary Clinton und erklärt sie zu einer Verbündeten, obwohl Bernie Sanders ein weit zuverlässigerer Unterstützer aller Kämpfe für soziale Gerechtigkeit ist. Das zeigt das Ausmaß, in dem solche Gruppen im Rahmen der institutionellen Politik funktionieren und unwillig oder unfähig sind, die Grenzen des heutigen politisches Diskurses, die vom Neoliberalismus bestimmt werden, infrage zu stellen. Als Teil des Systems schrecken sie davor zurück, es herauszufordern. Der Verlust sicherer Jobs und die Schwächung des sozialen Netzes haben Millionen Menschen ein Gefühl von Unsicherheit und Ohnmacht vermittelt. Die Angriffe der Konservativen auf Rechte von Arbeitnehmern, Frauen oder Immigranten haben manche der Betroffenen dazu veranlasst, die relative Sicherheit eines begrenzten demokratischen Liberalismus den Gefahren einer massiven Umwälzung vorzuziehen. Solche Befürchtungen sind innerhalb der black community besonders verbreitet. Das mag erklären, warum Hillary Clinton sich außergewöhnlich gut bei Wählern geschlagen hat, die positive Änderungen am dringendsten benötigen. Die Parolen, die bei den republikanischen Vorwahlen zu hören waren, und die Wahrscheinlichkeit, dass Donald Trump sich durchsetzen würde, hat solchen Bedenken zusätzliches Gewicht verliehen. Zudem haben nicht wenige Menschen die radikalen Bewegungen der 1960er und 70er Jahre selbst miterlebt oder beobachtet und sind überzeugt, dass die gnadenlosen Auseinandersetzungen innerhalb der Aktivistenkreise am Ende dieser Ära nicht nur die Möglichkeiten eines fortschrittlichen Wandels zerstört, sondern auch zu einem Rechtsruck des Landes beigetragen haben. Auch das mag erklären, warum Clintons Ansatz gegenüber einer Themensetzung bevorzugt wird, durch die die Wunden alter Spaltungen wieder aufgerissen werden könnte.
Aber nicht jeder akzeptiert solche Selbstbeschränkungen. Diejenigen, die Bernie Sanders unterstützen, tun dies wegen seiner klaren politischen Prinzipien, hinter denen eine politische Vision sichtbar wird. Sein Ruf nach einer allgemeinen Krankenversicherung trifft auf eine Realität, in der der Zugang zu medizinischer Versorgung für arbeitende Menschen und Arme teuer oder völlig unerschwinglich geblieben ist. Sein Ruf nach Abschaffung von Studiengebühren wird gehört von Universitätsabsolventen, die mit massiver Verschuldung und gleichzeitig unsicheren Berufsperspektiven zu kämpfen haben. Seine Forderung nach einem Lohn, der zum Leben reicht, stößt auf Resonanz, weil viele der in letzter Zeit entstandenen (Teilzeit-)Jobs gering vergütet und prekär sind. Sanders Opposition gegen neoliberale »Frei«-Handelsabkommen und sein Beharren darauf, dass der Klimawandel die wichtigste Frage der nationalen Sicherheit sei, bedeutet auch eine indirekte Kritik am Militarismus und benennt schon jetzt die existenzielle Krise, der sich die Menschheit gegenübersieht, wenn die Gier der Unternehmen immer und immer wieder die Oberhand gewinnt.
All die genannten Tendenzen spiegeln den Einfluss der Wall Street wider – einen Einfluss, der sichtbar wurde bei der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, Unternehmen unbegrenzt hohe Wahlkampfspenden zu gestatten. Sanders Angriffe auf die großen Banken und seine Verurteilung der Ungleichheit, die unweigerlich aus der Umverteilung des Wohlstands von den arbeitenden Menschen auf das »1 Prozent« erwächst, finden zunehmende Resonanz und reflektieren die ungebrochene Dynamik der Occupy-Bewegung. Beides steht für das Vermächtnis der amerikanischen Revolution, dass Demokratie, Freiheit und Gleichheit miteinander verbunden sein müssen – auch wenn diese Einsicht allgemein ignoriert oder unterdrückt wird. Alle drei werden gebraucht, damit jedes Element gedeihen kann. Diese Aussage ist zentral für die sozialistische Tradition, die tiefere Wurzeln in der US-amerikanischen Geschichte geschlagen hat, als allgemein angenommen wird. Sanders Bereitschaft, offen für Sozialismus zu werben, ist wegen seiner zentralen Botschaft wichtiger als die Frage nach seiner Sozialismusdefinition. Seine Botschaft lautet: Eine Gesellschaft, die niemanden zurücklässt, ist nur dann möglich, wenn der Plutokratie die Macht genommen und wieder an das Volk zurückgegeben wird.
Der Gedanke, dass ökonomische Gerechtigkeit und politische Demokratie es den Menschen ermöglichen, einen würdigen Platz in einer sonst rücksichts- und gefühllosen Welt zu finden, ist die Vision, die Sanders Unterstützer über sein Programm hinaus in Bewegung gebracht hat. Sein Ruf nach einer politischen Revolution ist vor allem bei jungen Menschen auf fruchtbaren Boden gefallen, die weniger zu verlieren haben und sich deshalb weniger verletzlich fühlen als manch Ältere, die Clinton unterstützen – vielleicht haben die jüngeren aber auch weniger Angst vor Verletzlichkeit. Es wäre jedoch falsch, die Spaltung der Anhänger von Sanders und Clinton als Generationenfrage zu sehen. Es ist auch eine Spaltung innerhalb der Frauenbewegung, der Einwanderer, unter Afroamerikanern und bei anderen Gruppen.
Die interne Konkurrenz ist vielleicht nirgends so scharf wie innerhalb der Arbeiterbewegung. Sanders hat mit seiner Kampagne nicht nur jungen Leuten gefallen, sondern vermochte auch in einem bisher unerreichten Maße das Engagement kämpferischer Gewerkschafter für sich zu gewinnen. Das verdankt er seiner steten aktiven Unterstützung der Gewerkschaften – bei Streiks, bei Aktionen zur Erhöhung des Organisierungsgrades, bei Kampagnen gegen Fabrikschließungen, bei Gesetzgebungsschlachten, die Arbeitsplatzfragen oder Gewerkschaftsrechte betrafen. Zwar unterstützen mehr Gewerkschaften Clinton als Sanders, viele Ortsverbände und Basisgruppen haben aber eine eigenständige Position eingenommen und nehmen aktiv an der Kampagne »Labor for Bernie« teil. Gewerkschaften, die offiziell Sanders unterstützen – darunter die Communication Workers, Postal Workers, Transportation Workers, Transit Workers, United Electrical und West Coast Longshore –, verlinken auf seine Wahlkampfseiten. Der Umfang dieser Pro-Sanders-Aktivitäten von Gewerkschaftsaktivisten ist der Grund, warum der Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO in der Frage Clinton oder Sanders neutral geblieben ist.
Reichen allerdings wird das nicht. Trotz der breiten Unterstützung für Sanders unterstützen Millionen von Menschen Clinton, andere Millionen Trump, und weitere Millionen von Wahlberechtigten beteiligen sich erst gar nicht, weil sie überzeugt sind, dass die Wahl hinsichtlich der Befriedigung ihrer Bedürfnisse irrelevant ist. Das alles ist deshalb wichtig, weil – wie Sanders selbst ständig klarmacht – wirkliche Veränderung nicht durch diese Wahl gewonnen, nicht durch Kompromisse innerhalb des Kongresses erreicht werden kann. Er bekräftigt immer wieder, dass nur durch Massenmobilisierung die neoliberalen Demokraten und Republikaner dazu gebracht werden können, sich dem Willen des Volkes unterzuordnen. Das aber setzt ein umfassenderes, tiefer wurzelndes Niveau des öffentlichen Engagements voraus. Sanders Stärke, die Unternehmer und die wachsende Kluft zwischen den Reichen und der arbeitenden Bevölkerung anzugreifen – so richtig und radikal sie ist –, greift zu kurz, solange die Notwendigkeit, ökonomische Gerechtigkeit und soziale Sicherheit für alle arbeitenden Menschen zu erreichen, nicht verbunden wird mit den Bewegungen gegen besonders krasse Formen von Ungerechtigkeit, die manche Teile der arbeitenden Bevölkerung noch stärker erleiden als andere. Der Ruf nach Jobs sollte auch den Zusammenhang zwischen der massenhaften Inhaftierung und der Arbeitslosigkeit von Schwarzen und Latinos thematisieren. Der Ruf für bessere Gesundheitsvorsorge sollte die Forderung nach besonderen Maßnahmen beinhalten, um Benachteiligungen schwangerer Frauen zu beenden, das Eintreten für kostenlose Universitätsausbildung sollte durch Vorschläge ergänzt werden, die sicherstellen, dass arme Kinder aus überwiegend von Schwarzen bewohnten Gegenden eine angemessene primäre Bildung erhalten.
Das Versäumnis, solche Verknüpfungen herzustellen, führte zur Niederlage von George McGovern im Jahre 1972 gegenüber der Law-and-order-Kampagne von Richard Nixon und dessen rassistischem Appell an die weißen Arbeiter. Von dort zieht sich ein roter Faden zu Jimmy Carters Rückzug aus einer Wirtschaftspolitik, die von der Arbeiterbewegung unterstützt wurde, bis zum Zusammenbruch einer reformorientierten Politik der Demokratischen Partei. Bill Clinton redete später von sozialer Gleichheit, um seine im Kern auf Ungleichheit zielende neoliberale Politik zu tarnen. Er steht für das Abreißen der Verbindung zwischen den verschiedenen sich für soziale Gerechtigkeit einsetzenden Gruppierungen, die während Jesse Jacksons Präsidentschaftswahlkämpfen in den Jahren 1984 und 1988 hergestellt worden war. Clintons Rückschritte legten die Basis für die heutige Vorherrschaft der Republikaner im Kongress. Ralph Naders eindimensionale Präsidentschaftskampagne scheiterte als Alternative – sie war in ihrer völligen Losgelöstheit nicht nur von den Demokraten, sondern auch von den sozialen Bewegungen unfähig, solche Verbindungen herzustellen. Die nicht gelösten Widersprüche aus der Vergangenheit kulminierten im Verpassen der großen Gelegenheit, die kurz aufschien, als Obama zum ersten Mal gewählt wurde. Doch statt seine Basis zu mobilisieren, legte er sein Hauptaugenmerk auf die Beschwichtigung von Republikanern und konzernfreundlichen Demokraten.
Heute führt schon allein das isolierte Benennen von ökonomischer Gerechtigkeit zu rassistischer Demagogie von Leuten wie Donald Trump, der nur die Wut der weißen Arbeiterschaft anspricht. Klassen-Ungleichheit nur abstrakt zu thematisieren ermöglicht es Wall-Street-Liberalen wie Hillary Clinton, die Kämpfe gegen besondere Formen sozialer Ungerechtigkeit von der allgemeinen Forderung nach ökonomischer Gerechtigkeit zu trennen. Nur wenn Diskriminierung und Ausbeutung in ihrer spezifischen Ausprägung und ihrer Verknüpfung angegriffen werden, können die durch Sanders‘ Wahlkampf geschaffenen Möglichkeiten genutzt werden.
Kurz bevor Amilcar Carbral, der Führer der Befreiungsbewegung von Guinea und den Kapverdischen Inseln, im Jahre 1973 ermordet wurde, hat er gegenüber einer Gruppe von Studenten der Howard-Universität in Washington angemerkt, dass die Vereinigten Staaten »immer noch dabei sind, eine Nation zu werden – diese Aufgabe ist noch nicht vollendet«. Er fügte hinzu: »Vieles hat dazu beigetragen, dieses Land zu formen und zu verändern – zum Beispiel der Vietnamkrieg, wenn in diesem Falle auch unglücklicherweise auf Kosten des vietnamesischen Volkes.« Die unterschiedlichen Gemeinschaften der USA, die sowohl durch gemeinsame Unterdrückung und Ungleichheit als auch durch gemeinsame Geschichte und gemeinsame Entwicklungen zusammengeschmiedet werden, können eine organische Einheit nur durch einen gemeinsamen Kampf für Gerechtigkeit erlangen. Opposition gegen das fragmentierte, imperialistische Land, das die USA geworden sind – das ist der Weg, den der Sozialismus gehen sollte, um die Spaltungen zu überwinden und so das Versprechen auf Gleichheit einzulösen, für das diese Nation stehen könnte.
Kurt Stand lebt und arbeitet in den USA. Übersetzung: Manfred Sohn.