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Titel1317

VW und der Adler  (Reiner Diederich)

Wie der Name schon sagt, ist das Handelsblatt eine wirtschaftsfreundliche Zeitung. Es geht ihr um den durch staatliche Eingriffe möglichst ungestörten Handel und Wandel. Wenn sich das Blatt den Machenschaften eines Industriekonzerns zuwendet, muss man sich fragen, mit welchem Interesse das geschieht. Im Mai dieses Jahres brachte die Zeitung auf ihrer Titelseite einen grimmig blickenden Bundesadler, der seine Krallen ausgefahren hat, um sich im nächsten Moment das VW-Firmenzeichen zu greifen. »Die VW-Affäre. Ein Konzern im Visier der Staatsanwälte« lautete die Schlagzeile.

 

Es sah so aus oder sollte so aussehen, als ob nun endlich bei VW durchgegriffen würde. Nachdem jahrelang vergeblich vor Abgas-Manipulationen bei Dieselmotoren gewarnt worden war, nachdem jahrelang staatliche Stellen untätig geblieben waren und auch der TÜV nichts merkte, nachdem der Betrug von VW erst in den USA aufflog und mittlerweile gegen weitere Autokonzerne im In- und Ausland ermittelt wird, suggerierte der Titel des Handelsblatts den starken Staat, der sich gegen Kapitalinteressen durchsetzt – oder doch nicht?

 

Wie immer sind Bilder ambivalent, erlauben mehrere Deutungen. So auch dieses. Könnte es nicht sein, dass der Adler zugreift, um die Marke VW zu bewahren und zu schützen? Schließlich steht sie wie nur noch Mercedes-Benz für deutsche Wertarbeit im Automobilbau, für das deutsche Exportwunder und für viele Arbeitsplätze. Die Kanzlerin wurde denn auch nicht müde, nach der Aufdeckung des »Dieselgate« davor zu warnen, nun die ganze Branche zu verdammen – und etwa weniger Autos zu kaufen, um die Umwelt und die Gesundheit zu schonen.

 

Bedenkt man die Geschichte von VW, liegt noch eine ganz andere Assoziation nahe: Der Adler krallt sich hier das Firmen-Emblem, wie er seinerzeit den Kranz aus Eichenlaub mit dem Hakenkreuz in den Fängen hielt. Schließlich sollte der Volkswagen damals wie der Volksempfänger ein Symbol der Volksgemeinschaft sein – unter den Fittichen des deutschen Greifvogels. Dass die VW-Sparer in den 1930er Jahren den Bau des Wolfsburger Werkes finanzieren durften, in dem dann Kübelwagen für den Krieg produziert wurden, dass sie in der Nachkriegszeit eine kaum nennenswerte Entschädigung erhielten, aber kein Auto – das ist nur ein Kapitel in der endlosen Geschichte vom Volksbetrug.

 

Für die Handelsblatt-Macher sollte das Titelmotiv aber vermutlich nur den bei Wirtschaftsliberalen traditionell beliebten Gegensatz zwischen Staat und Wirtschaft ins Bild setzen und subtil vor zu harten staatlichen Maßnahmen warnen. Wirtschaftsliberale nehmen es gerade noch hin, wenn kriminelle Rechtsverstöße geahndet werden müssen, wehe aber, der Kapitalverwertung würden allzu strenge Zügel angelegt. Beispielsweise durch höhere Unternehmenssteuern oder gar eine Umverteilung der Einkommen und Vermögen von oben nach unten. Das wäre des Teufels und kommt schon gar nicht in Frage. Vor Steuererhöhungen für Reiche wird im beginnenden Bundestagswahlkampf bereits wieder so gewarnt, als ginge es darum, uns allen etwas wegzunehmen.

 

In der ZDF-Sendung »Geheimakte VW – Wie die Regierung den Konzern schützt« vom 7. Juni bekam der Titel des Handelsblatts dann einen eindeutigen Sinn: Aus der »VW-Affäre« ist längst eine Staatsaffäre geworden. Aufgezeigt wurde anhand der von Whistleblowern zugespielten Akten, wie mit dem Segen des Kraftfahrt-Bundesamtes und offensichtlich auch des Verkehrsministeriums weiterhin manipuliert wird, was das Zeug hält. Das preiswerte Software-Update zur Korrektur des Betrugs, mit dem VW bisher seine deutschen Kunden abgespeist hat, erlaubt immer noch Ausnahmen und damit die Überschreitung der EU-Abgasnormen um das Mehrfache. Bei Kundenklagen versucht VW auf Zeit zu spielen, um durch die Verjährung von Ansprüchen hohe Entschädigungszahlungen wie in den USA abzuwehren.

 

Jemand, der lange beim Verband der Automobilindustrie (VDA) gearbeitet hat, informierte mich über einen Sachverhalt, den ich bisher nicht kannte: Mit dem Zusatzstoff AdBlue hätten schon lange 90 Prozent der schädlichen Dieselabgase vermieden werden können. Auf die Frage, warum die entsprechende Technik von den Herstellern nicht serienmäßig in die Autos eingebaut worden ist, antwortete er: Weil das teuer gewesen wäre und die Kunden vom Kauf abgeschreckt hätte. So ist das also: Für die eigene Gesundheit ist uns nichts zu teuer – für die unserer Mitmenschen nichts zu billig. Und für die Automobilindustrie darf es keinen Grenzwert bei den Profiten geben.