Sie ist gütig, mitfühlend und warmherzig. Kurz gesagt: Unsere Bundeskanzlerin ist eine Seele von Mensch. Allein schon in ihren vom Bundeskanzleramt dokumentierten Ansprachen taucht das Wort »Mitmenschlichkeit« 574 Mal auf. Noch mehr liegt ihr die »Würde des Menschen« am Herzen, 1990 Mal hat sie sie in ihren Reden beschworen. Inzwischen dürfte die Rekordmarke 2000 überschritten sein. Kein Wunder, ist sie doch gläubige Christin und Vorsitzende der Partei mit dem großem »C« im Namen.
Ihr mitmenschliches Verhalten brachte ihr zuweilen auch aufrichtigen Dank ein. Zu Beginn der Flüchtlingskrise gaben einige in der Bundesrepublik angekommene Eltern aus Dankbarkeit für die Haltung der deutschen Regierungschefin ihren neugeborenen Kindern Merkel-Namen. So erhielt ein neugeborenes Kind eines syrischen Paares die Vornamen Angela und Merkel. Ein anderes syrisches Kind heißt Serbia Merkel Al-Mustafa. Eine Kamerunerin nannte ihr Kind Christ Merkel, und die Tochter einer Ghanaerin heißt Angela Merkel Adé. Kann es eine rührendere Form dankender Anerkennung geben? In den letzten beiden Jahren wurden allerdings keine weiteren Merkel-Namen für neue Erdenbürger bekannt. Woran mag das liegen? An der christlichen Nächstenliebe der Wir-schaffen-das-Kanzlerin hat sich doch nichts geändert.
In der Diskussion mit dem Friedensnobelpreisträger Barack Obama auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag vor dem Brandenburger Tor bekannte sie, »zutiefst christlich geprägt« zu sein. Nicht umsonst laute der Artikel 1 des Grundgesetzes, »dass die Würde des Menschen unteilbar, unantastbar« sei, um fortzufahren: »Deshalb ist im täglichen Leben aus dem christlichen Glauben geronnen, dass ich mich für die Würde der Menschen einsetzen muss.« Und wahrhaftig, sie tut es, zumindest verbal.
Mitte November 2015, unmittelbar nach den schrecklichen Terroranschlägen in Paris, erklärte sie, dass wir auch als Bürger eine klare Antwort geben. »Die heißt: Wir leben von der Mitmenschlichkeit, von der Nächstenliebe, von der Freude an der Gemeinschaft.« Doch nicht erst als Kanzlerin trat sie für diese hehren Ziele ein. Am 3. Januar 2005, Angelika Merkel war »lediglich« CDU-Vorsitzende, richtete sie an ihre Partei eine aufrüttelnde Neujahrsbotschaft, in der sie diese darauf einschwor, »was wirklich zählt, Mitmenschlichkeit, Solidarität und Nächstenliebe«. Das dürfe die CDU nie aus den Augen verlieren. Und tatsächlich, die Kanzlerin behielt innen- wie außenpolitisch alles im Auge. Erst unlängst stellte sie es erneut unter Beweis. Aus lauter Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe drängte sie erfolgreich darauf, dass die EU-Staaten ihre 2011 verhängten Sanktionen gegen Syrien um ein weiteres Jahr bis zum 1. Juni 2018 verlängerten. Die »Strafmaßnahmen« werden laut dpa mit dem Vorgehen der Führung des Landes unter Baschar al-Assad gegen die Zivilbevölkerung begründet. Die Maßnahmen sind weitreichend und haben seit ihrem Inkrafttreten die Wirtschaft in Syrien faktisch lahmgelegt. Die Sanktionen bestehen aus Ölembargo und Investitionseinschränkungen sowie dem Einfrieren der Vermögen der syrischen Zentralbank innerhalb der EU und einem weitreichenden Exportverbot. Die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung sind verheerend.
Die christliche Kanzlerin weiß das selbstverständlich nicht. Aber den Appell an die EU »Basta sanzioni alla Siria e ai Siriani« (Schluss mit den Sanktionen gegen Syrien und die Syrer) vom Mai des Vorjahres dürfte sie wohl kennen. Offensichtlich hält sie ihn nicht für glaubwürdig. Wie kann es denn sein, dass in einem moslemischen Staat unter der Herrschaft eines Diktators unterschiedliche christliche Kirchen existieren und einen gemeinsamen Aufruf verabschieden? Immerhin haben ihn Führer katholischer Kirchen in Syrien verfasst, darunter Georges Abou Khazen, Apostolischer Vikar von Aleppo, Josef Tobji, Erzbischof der Maroniten von Aleppo, Pater Firas Loufti, Franziskaner, Jean-Clement Jeanbart, griechisch-katholischer Erzbischof von Aleppo, Gregor III. Laham, Patriarch der melkitischen griechisch-katholischen Kirche. Die christlichen Würdenträger fordern, die Sanktionen umgehend aufzuheben, denn in den zurückliegenden fünf Jahren hätten diese dazu beigetragen, die syrische Gesellschaft dem Hunger, Epidemien und Elend auszusetzen. Wörtlich erklären sie: »Die Situation in Syrien ist verzweifelt: Es fehlt an Lebensmitteln, es herrscht eine allgemeine Arbeitslosigkeit, medizinische Versorgung unmöglich, Trinkwasser und Strom werden rationiert. Dazu hindert das Embargo Syrer, die sich bereits vor dem Krieg im Ausland niedergelassen haben, daran, ihren Familien, die in Syrien geblieben sind, Geld zu überweisen … Selbst Nichtregierungsorganisationen sind bei ihren Hilfsprogrammen mit großen Problemen konfrontiert, wenn sie Geld nach Syrien schicken möchten. Firmen, Stromwerke, Wasserwerke, Krankenhausabteilungen sind gezwungen zu schließen, weil sie keine Ersatzteile und kein Benzin bekommen können …« (www.bastasanzioniallasiria.org/deutsch/)
Ja, das Elend der syrischen Mitmenschen ist nicht allein infolge des Krieges unsagbar groß, sondern auch aufgrund der EU-Sanktionen. Wenn die Kanzlerin das wüsste und ob der Unwahrscheinlichkeit der Existenz so verschiedener christlicher Führer im Assad-Staat nicht daran zweifeln würde, dann würde sie handeln. Getreu nach ihrer bereits 2005 verkündeten Maxime: »Mitmenschlichkeit, Solidarität und Nächstenliebe«.
Einer, der diese oder ähnliche Maximen hervorhob, war der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Obwohl die Beziehungen zwischen diesem und der Kanzlerin nicht völlig störungsfrei waren, gelobte Angela Merkel, als der Altbundespräsident 2015 starb, ihn nie zu vergessen. Er sei eine der wichtigsten und geachtetsten Persönlichkeiten unseres Landes gewesen, Seine Amtszeit als Bundespräsident von 1984 bis 1994 habe Maßstäbe gesetzt. »Er wollte Orientierung geben, wie er selbst sagte – und hat diesen selbstgesetzten Anspruch glanzvoll erfüllt.«
Eine dieser Orientierungen hatte von Weizsäcker in die Worte gekleidet: »Seiner eigenen Würde gibt Ausdruck, wer die Würde anderer Menschen respektiert.« Unserer Bundeskanzlerin gelingt es leider nicht immer, die Würde anderer Menschen, zum Beispiel der unter den EU-Sanktionen leidenden Syrer, zu respektieren. Sagt das etwa etwas über ihre eigene Würde aus? Natürlich nicht, denn sie ist doch gütig, mitfühlend und warmherzig – eine Seele von Mensch.