Was die Wenigsten wissen, aber auch nicht unbedingt wissen müssen: Am 20. Juni wurde zum dritten Mal der offiziell so bezeichnete Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung begangen, den die Bundesregierung 2014 beschlossen hat. Sie entsprach damit einem dringenden Wunsch des Bundes der Vertriebenen, der den 1976 eingeführten Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus offenbar als einseitige Benachteiligung Deutschlands empfunden hat.
Am ersten Gedenktag für die Opfer der Vertreibung erinnerte Bundesinnenminister Thomas de Maizière 2015 daran, dass »Flucht und Vertreibung der Deutschen auch die Folge des von Deutschen über Europa gebrachten Unrechts« gewesen seien. Das habe »für manche den Umgang mit dem Leid der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen schwierig« gemacht.
Diese Schwierigkeiten rührten aber auch daher, dass die »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« die Vertriebenen als die »vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen« bezeichnete. Zudem rief das umstrittene Dokument die »Völker der Welt« dazu auf, sich zu ihrer »Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen« zu bekennen. Soviel Selbstgerechtigkeit konnte nicht ohne Folgen bleiben.
Leider war das auch der Tonfall mancher Rede, die am ersten Gedenktag für die Opfer der Vertreibung gehalten wurde. Den Vogel schoss dabei eine aus ihrer Heimat vertriebene Sudetendeutsche ab, deren Name hier nicht genannt werden soll. Als ich ihn las, hielt ich sie für die unbelehrbare Tochter eines bekannten sudetendeutschen Altnazis. Aber die Namensgleichheit trog. Tatsächlich handelte es sich um eine Frau, die in der DDR Karriere gemacht hatte und vom mittellosen Vertriebenenkind zur promovierten Agrarwissenschaftlerin in einem staatlichen Forschungsinstitut aufgestiegen war. Nach der Wende wurde sie nicht mehr gebraucht. Als vom Schicksal abermals Bestrafte betätigte sie sich fortan in der Berliner Frauengruppe des Bundes der Vertriebenen. Über ihre Rede hieß es in der Presse, die aus ihrer Heimat Vertriebene habe nach ihrer Schilderung als Zehnjährige mit ansehen müssen, wie Säuglinge aus ihrem Kinderwagen gerissen und »zum Tontaubenschießen in die Luft geworfen« worden seien. Sie habe es noch im Ohr, wie die Mütter geschrien und die Peiniger gelacht hätten.
Eigene Erinnerungen an die wirre Zeit nach Kriegsende im Hinterkopf durchforstete ich die einschlägige Literatur, fand aber keinen Hinweis auf das geschilderte grausame Verbrechen. Ich befragte Historiker und wandte mich an die tschechische Botschaft in Berlin. Die konsultierte daraufhin die deutsch-tschechische Historikerkommission und ließ mich wissen, dass dort keine nachweisbaren Fälle der geschilderten Art bekannt seien. Schließlich fragte ich die Rednerin in einem persönlichen Brief, wann und wo das vermeintliche »Tontaubenschießen« auf Kleinkinder stattgefunden habe. Statt einer Antwort schrieb sie mir: »Wenn Sie meinen Erfahrungen nicht glauben, dann kann ich das leider nicht ändern.« Immerhin erfuhr ich im Verlauf unseres Briefwechsels auf eine gezielte Frage hin, dass sich die Ereignisse an der Elbe zwischen Tetschen-Bodenbach nach Herrnskretschen abgespielt hätten.
In dem 1952 in vierter Auflage erschienenen Band »Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen« wird ein »Tontaubenschießen« auf Kleinkinder nicht erwähnt, wohl aber ein brutaler Exzess, der sich am 31. Juli 1945 auf der Brücke über die Elbe im benachbarten Aussig abgespielt hat, drei Wochen nachdem die Zehnjährige dort vorbeigekommen war. Gleichwohl will sie am 7. Juli gesehen haben, dass auf der Elbe »auf Bretter genagelt wie Gekreuzigte gebunden, ca. 20 Leichen angeschwommen« kamen. Nachzulesen in ihrem Buch »Erinnerung an Mähren«. Unser Briefwechsel endete ohne Ergebnis. Offensichtlich entsprang die Geschichte vom Tontaubenschießen auf Säuglinge einer Mischung aus kindlicher Phantasie und angelesenen Erinnerungen.
Etwas in mir sträubt sich dagegen, den Stab über einen Menschen zu brechen, der ein Trauma mit sich herumträgt. Der Sinn des Gedenktages für die Opfer der Vertreibung kann es jedenfalls nicht sein, Salz in alte Wunden zu streuen. Immerhin, das sei hier noch angemerkt, hat sich die in der DDR sozialisierte und jetzt für den Bund der Vertriebenen tätige ehemalige Sudetendeutsche dafür bedankt, was ich ihr zur Charta der Heimatvertriebenen schrieb. »Ich habe immer gehört, dass Altnazis dabei waren. Nun habe ich es von Ihnen schwarz auf weiß. Zum Bund der Vertriebenen habe ich ähnliche Gedanken wie Sie.« Dann zitiert die Frau, der Bundespräsident Gauck am 20. Juni 2015 anerkennend die Schulter getätschelt hat, in ihrem letzten Brief an mich auch noch Lenin, der sinngemäß gesagt habe, bei der Umwandlung von einer Gesellschaftsordnung zur anderen sei man so lange auf die vorhandenen Kräfte angewiesen, bis man eigene Kader entwickelt habe. Ob die neue Gesellschaft das auch wolle, sei allerdings die Frage. Doch das ist ein neues, ein ganz anderes Thema.