Flüchtig lebt die Geschichtspolitik – wer erinnert heute noch an den Beginn des Ersten Weltkrieges? Der große Rummel um den 100. Jahrestag ist vorbei – ein Jahrestag mit der Zahl 103 scheint Historikern wie Medien keine Aufmerksamkeit wert zu sein. Letztere trieben seitdem, wie es im Volksmund heißt, andere Säue durchs Dorf, ließen andere Aufgeregtheiten folgen: Schon im Jahre 2015 schaute man eher auf das Ende des zweiten großen Völkermordens, das für viele keine Befreiung gebracht haben soll. Bald danach standen die Revolutionen im Fokus, welche vor einhundert Jahren die Macht der Herrschenden erschütterten. In geschichtsrevisionistischer Manier geht da jedoch die Rede weniger vom Frieden, den sie hätten bringen können, weil vielen Menschen das Wort »Nie wieder Krieg!« als Lebensmaxime galt.
Wer sich heute für Geschichte interessiert, erlebt neue Kriege und militärische Aktionen in nahezu allen Teilen der Welt. Nach den Ursachen Fragende orientieren sich möglicherweise immer noch leichtgläubig am Angebot, das Christopher Clark mit seinem von Norbert Juraschitz übersetzten »Schlafwandler«-Buch unterbreitete, an seiner Offerte, die nicht einmal neu war und nur aufgewärmt daherkam (siehe Ossietzky 22/2013). Er lud dazu ein, alles Geschehen mit naturgegebenen Unzulänglichkeiten des Menschen zu erklären. Seine These: 1914 habe eine Tragödie begonnen, nicht etwa ein geplantes und herbeigeführtes Verbrechen. Man sei wegen einer europaweiten Schlafwandelei in den Krieg »hineingeschlittert«. Eigentlich habe ihn niemand gewollt (natürlich außer den Russland nahestehenden und von Clark dämonisierten Serben!), er sei ausgebrochen wie ein Vulkan. Vor allem der deutsche Imperialismus sei frei von Schuld und benötige daher Seelentrost, denn die berechtigte Anklage will nicht aus dem Gedächtnis weichen. Dementsprechend lauten irreführende Begriffe: unglücklicher Verlauf, Versagen, Unfähigkeit, Leichtsinn, Angst, Paranoia, Schicksal und so weiter. Dazu passt das gern gebrauchte Wort von der »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts. Haftet ihm doch auch etwas Naturgesetzliches an, etwas anscheinend nicht zu Erfassendes und Kriegsursachen letztlich Verklärendes. Zugleich mit erlösender Entlastung Schuldiger finden sich immer andere, die es als Sündenbock zu verdammen gilt.
Gegen solche Geschichts- und Gegenwartsdeutungen wendet sich nun, gleichsam im Nachgang, ein lesenswertes Buch, verfasst von Klaus Gietinger und Winfried Wolf. Ersterer lieferte den Hauptteil, der andere eine sehr ausführlich geratene Einleitung. Beiden gelang in der Auseinandersetzung mit Clarks Thesen und Behauptungen eine eigenständige Darstellung der Ursachen, die zum Krieg führten und die den gegebenen Zusammenhang mit den kapitalistischen Eigentums-, Krisen- und Konkurrenzverhältnissen erkennen lassen. Und der Krieg selbst erscheint als profitables kapitalistisches Business, wie es auf Seite 25 im Klartext heißt. Deutlich wird, dass die Debatte über das Clark-Buch eigentlich eine war über das große Thema der heutigen Welt: Weshalb werden erneut Kriege geführt? Wie weiter in den existenziellen Fragen von Krieg und Frieden?
Selbstverständlich geht es den Autoren nicht allein um Clark, den im Mittelpunkt stehenden »Seelentröster« deutscher Interessenten an einer bundesrepublikanischen Vormachtstellung in Europa und in der Welt. Ihm schlossen sich ja Herfried Münkler (siehe Ossietzky 20/2014) und andere an, darunter auch Historiker, die zuvor durchaus kritische Positionen vertreten hatten: Gerd Krumeich, Sönke Neitzel, Jörn Leonhard und andere mehr, während viele sich etwas zurückhielten, so dass es nicht zu einem neuen großen Historikerstreit kam, vergleichbar jenem in den 80ern des vorigen Jahrhunderts. Clarks Werk bietet indessen die passende Folie, gleich ob inhaltlich oder in ihrer Machart, für das Erhellen einer selektiv-prodeutschen und von Kapitalismuskritik völlig freien Geschichts-»Erzählung«. Es bietet zugleich Raum für die erforderliche Kritik an einer Darstellung, die bewusst Lücken lässt und Tatsachen schlicht unterschlägt, sollten sie nicht ins gewählte Korsett passen. Und es lässt sich zeigen, wohin es führen kann, wenn nicht nach kausalen Zusammenhängen gesucht, wenn ökonomische Interessen völlig außen vor gelassen bleiben, wenn alles Kausale auf individualpsychologische Aspekte begrenzt erscheint.
Insofern geriet der vorliegende Band zu einer gleichermaßen enthüllenden Widerlegung sowie zum aufschlussreichen und detailliert überzeugenden Widerpart. Er darf als ein gelungenes Beispiel gelten für das Verknüpfen von historischer Darstellung und treffsicherer Auseinandersetzung. Beides sinnvoll miteinander zu verzahnen, zwang zu einer relativ umfangreichen und stark von systematisierenden Vorgaben getragenen Gliederung. Vorteilhaft kann so der Band, obgleich er möglichst in Gänze gelesen werden sollte, auch zur Aufklärung einzelner Komplexe genutzt werden, erleichtert durch eine Fülle von Teilzusammenfassungen. Der Nachteil: Redundanzen. Doch die können in Kauf genommen werden. Dem nach Belegen suchenden und möglicherweise selbst forschenden Leser dienen zahlreiche Hinweise auf Möglichkeiten, Quellen und Dokumente nicht allein in umfänglichen Publikationen, sondern auch in den neuen elektronischen Medien zu nutzen. In Hülle und Fülle wird auf wissenschaftliche Werke und publizistische Beiträge verwiesen, die sich kritisch mit Clark und den Debatten um seine Thesen befassten; leider fehlt da der Band »1914. Das Ereignis und sein Nachleben« von Kurt Pätzold.
Bemerkenswerte Parallelen zur Behandlung der Kriegsschuldfrage im Deutschland der Weimarer Republik hätten vielleicht ausführlicher behandelt werden können. Es bleibt bei wiederholten Feststellungen, Clark habe die Geschichtswissenschaft mit seinen Verdrehungen und unzutreffenden Feststellungen, die nahezu als Verfälschungen zu bezeichnen sind, auf den Stand der »Unschuldshagiografie« der 1920er und der 1950er Jahre zurückgeworfen. Bekanntlich wurden auch damals vor allem Historiker aus anderen Ländern gehätschelt und bejubelt, machten sie die »Unschuld« des deutschen Imperialismus zu ihrem Anliegen. Ebenso ließen sich zu jener Zeit große Teile der Deutschen davon das Hirn vernebeln.
Das Urteil Gietingers fällt eindeutig aus: Clark propagiere wieder ein nahezu weltkriegsunschuldiges Deutschland. Sein Buch stelle »die scheinbar wissenschaftliche Bestätigung für ein Gefühl [dar], das die meisten Bürger dieses Landes in den 20ern, 30ern, während des Faschismus und in den 50ern, bis weit in die 60er hinein beschlichen hat: schuldlos zu sein«. Die oft zitierte Bemerkung des britischen Ex-Premierministers Lloyd George, alle Mächte seien in den Ersten Weltkrieg hineingeschlittert, erscheine »verglichen mit Clarks Buch noch geradezu deutschkritisch« (S. 298). Wer des Seelentrösters Ergüsse nicht parallel zur Kritik der Autoren lesen möchte, kann sich auf eine »kurze Zusammenfassung« des Schlafwandler-Buches stützen (S. 320-326).
Klaus Gietinger und Winfried Wolf: »Der Seelentröster. Wie Christopher Clark die Deutschen von der Schuld am I. Weltkrieg erlöst«, Schmetterling Verlag, 345 Seiten, 19,80 €